Donnerstag, 14. Januar 2016

Charisma als Scrum Master-Eigenschaft

Bild: Wikimedia Commons/Alberto Corda - Public Domain
Ein Ergebnis vieler Diskussionen der letzten Zeit: ein Scrum Master sollte eine charismatische Person sein. Dort wo Scrum richtig implementiert ist, ist er nicht der disziplinarische Vorgesetzte des Teams, dieses sollte ihm aber trotzdem (bis zu einem gewissen Grad) freiwillig folgen. Eine Grundlage dieser Gefolgschaft - zumindest so wie wir es verstanden haben - ist das Charisma, das er in die Waagschale werfen kann um seine Teammitglieder zu begeistern und vom richtigen Vorgehen (adaptiv, iterativ, etc.) zu überzeugen. Wenn er es hat kann er seinen Job machen, denn dann werden seine Ratschläge auch angehört, angenommen und umgesetzt werden wenn man nicht völlig sicher ist was ihre Umsetzung bewirken wird. Wenn nicht wird er es schwer haben, denn Vieles im agilen Vorgehen (z. B. keine Detailplanung, keine exakte Zeit-/Aufwandsschätzung, keine externe Qualitätssicherung) erscheint zunächst widersinnig wenn man anderes gewohnt ist. Und ein zweifelndes, von seiner Ansprache nicht überzeugtes Team wird sich meistens nicht trauen neue Wege zu gehen. So weit, so einfach. Es bleibt allerdings die Frage: Charisma - was soll das sein? Als alter Geisteswissenschaftler würde ich zur Bestimmung auf denjenigen zurückgehen, der den Begriff in seiner heutigen Form festgelegt hat, auf Max Weber. Er definierte es folgendermassen:
Charisma soll eine als außeralltäglich [...] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie [...] als Führer gewertet wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus "objektiv" richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den Anhängern, bewertet wird, kommt es an.
Mit anderen Worten: es kommt nicht darauf an wie überzeugend und bewundernswert exzellent in seinem Tun ein Scrum Master ist (selbst wenn das häufig fälschlicherweise für Charisma gehalten wird). Er ist nur dann charismatisch, wenn sein Team ihn dafür hält. Das passiert übrigens schneller als man denken sollte - in der Soziologie geht man davon aus, dass in der westlich/europäischen Welt Charisma nicht nur bestimmten Personen, sondern auch bestimmten Ämtern zugeschrieben wird. Das gilt z.B. für religiöse Führer, aber auch und gerade für die Wirtschaft. Noch einmal Max Weber:
Beziehung zur Wirtschaft: Die Veralltäglichung des Charisma ist in sehr wesentlicher Hinsicht identisch mit Anpassung an die Bedingungen der Wirtschaft als der kontinuierlich wirkenden Alltagsmacht. [...] In weitestgehendem Maße dient hierbei die erb- oder amtscharismatische Umbildung als Mittel der Legitimierung bestehender oder erworbener Verfügungsgewalten.
Stark vereinfacht gesagt und auf das konkrete Beispiel bezogen: die Teammitglieder nehmen zunächst ganz selbstverständlich an, dass der Scrum Master überzeugend und exzellent ist - warum sonst sollte man ihm diesen Job gegeben haben? Aber - was passiert, wenn sie mit dieser Annahme falsch liegen, wenn der Scrum Master diese Erwartungen nicht erfüllt? Auch darauf gibt die Theorie eine Antwort. Ein letztes mal Weber:
Über die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung [...] gesicherte freie [...] Anerkennung durch die Beherrschten. Bleibt die Bewährung dauernd aus, [...] vor allem: bringt seine Führung kein Wohlergehen für die Beherrschten, so hat seine charismatische Autorität die Chance, zu schwinden.
Anders formuliert: der Scrum Master hat zwar zunächst einen Vertrauensvorschuss, er wird aber permanent an den ihm entgegengebrachten Vorschusslorbeeren gemessen. Zeigt sich jetzt, dass er auch nicht überzeugender und besser ist als alle anderen, dann war es das mit der freiwilligen Gefolgschaft.

Um zur Aussage und Frage vom Beginn zurückzukommen: ein Scrum Master wird nur dann als charismatisch wahrgenommen (und nur dann folgt man ihm) wenn er die Erwartungen die die Teammitglieder in ihn setzen durchgehend erfüllt. Eine Herausforderung. Um das zu können und nicht daran zu scheitern sollte er in der Lage sein Expactation Management zu betreiben. Erst indem er seinem Team vermittelt wo es hohe Erwartungen haben kann und wo nicht macht er diese erfüllbar. Zu seinem Glück ist er dafür sogar zuständig und (wenn er denn fähig ist) auch in der Lage, denn das Vermitteln von Methodenkenntnis und Rollenverständnis ist zentraler Teil seines Jobs. Letztendlich ein Zirkelschluss - durch sein (Amts)charisma kann er die Erwartungshaltung beeinflussen und diese danach auch erfüllen, woraus wieder neues Charisma entsteht. Anders als man denken könnte ist charismatisches Auftreten also keine Göttergabe sondern ein anspruchsvolles Handwerk, das man beherrschen muss wenn man in der Lage sein will das Team indirekt zu leiten.

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