Montag, 22. April 2019

Willkürliche Deadlines

Bild: Wikimedia Commons / Waterced - CC BY-SA - 4.0
Fast jeder der länger in Projekten oder Programmen jeglicher Grösse gearbeitet hat wird sie kennen: willkürliche, unrealistische Deadlines. Nicht zu verwechseln mit den gerechtfertigten Deadlines (z.B. wegen sich ändernder Gesetze), mit denen man irgendwie umgehen muss, handelt es sich bei ihnen um scheinbar ohne Notwendigkeit getroffene Entscheidungen, bei denen allen Beteiligten von Beginn an klar ist, dass man sie mit grosser Wahrscheinlichkeit deutlich verfehlen wird. Warum es trotzdem immer wieder zu ihnen kommt erkennt man an einem aktuellen Beispiel.

Nur wenige Tage nach dem Brand der weltberühmten Kirche Notre Dame de Paris wurde bereits verkündet wann der Wiederaufbau abgeschlossen sein soll: in fünf Jahren, also 2024. Dass diese Zahl realistisch ist kann zu Recht bezweifelt werden. Bereits vor dem Brand war der Bau schwer beschädigt, die zusätzlichen Beschädigungen durch den Brand sind in ihrer Tragweite noch nicht absehbar und um das Ganze noch komplexer zu machen soll in den Wiederaufbau das Ergebnis eines noch durchzuführenden Architekturwettbewerbes einfliessen. Auf dieser Grundlage in so kurzer Zeit fertig zu werden ist illusorisch.

Dass diese Zahl trotzdem im Raum steht hat Gründe. Der naheliegendste: Wunschdenken. Die pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo äusserte ganz offen einen Grund für den engen Zeitplan - zu den in Paris stattfindenden olympischen Spielen 2024 sollten die Schäden beseitigt sein. Ein nachvollziehbares Anliegen, schliesslich werden dann zigtausende Athleten, Touristen und Journalisten nach Frankreich kommen. Dass dieses Wunschdenken aber nicht von Beginn an als das erkannt wird was es ist liegt unter anderem an der Entkoppelung von Auftrag und Umsetzung. Je weniger man über ein Thema weiss, desto stärker kann Realismus von Hoffnung überlagert werden.

Ein zweiter Grund ist der, dass eine derart gewagte Aussage den der sie trifft als tatkräftigen Macher erscheinen lässt. Gerade im Fall des Urhebers dieses "Fünfjahresplans", des französischen Präsidenten Macron, der sich gerade erst von verheerenden Umfragewerten erholt, eine grosse Verlockung - nicht zuletzt weil mit der Europawahl eine wichtige Abstimmung nur wenige Wochen bevorsteht. Mit dem noch frischen Eindruck eines energischen Krisenbewältigers könnte er hier punkten, unabhängig von den langfristigen Erfolgsaussichten. Und sollte er damit erfolgreich sein können sich seine Wähler später an die eigene Nase fassen.

Ein dritter Grund ist, dass das angekündigte Zieldatum in einer Zeit liegt in der Macron keine negativen Folgen für sich selbst mehr befürchten muss. Laut französischer Verfassung kann er nur einmal wiedergewählt werden, und zwar 2022, also Jahre vor dem von ihm selbst gesetzten Zieldatum. Selbst wenn die Wähler es ihm übelnehmen sollten wenn der Wiederaufbau 2024 nicht abgeschlossen ist - die Folgen darf dann ein anderer ausbaden (und selbst der kann sich dann darauf berufen, dass die Ankündigung nicht seine war. Siehe hier). Parallelen zu zeitlich begrenzten Management-Amtszeiten sind offensichtlich.

Faktoren wie diese lassen sich in vielen komplexen Vorhaben finden, ob in Staat oder Wirtschaft, in Bau- oder IT-Projekten. Betrachtet man sie lassen sie die Setzung scheinbar willkürlicher Deadlines in neuem Licht erscheinen. In den meisten Fällen sind sie bedingt durch die Funktionsweise des umgebenden Systems und ergeben im Kontext von dessen Rahmenbedingungen absolut Sinn. Umgekehrt regen diese Erkenntnisse zur Hoffnung an. Wenn ein Systemdesign derartige Phänomene begünstigt, dann kann ein anderes sie unwahrscheinlicher machen. Man kann also daran arbeiten.

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