Donnerstag, 15. August 2019

Denn sie wissen nicht, wen sie rekrutieren (IV)

Bild: Flickr / Amtec - CC BY-SA 2.0
Angeregt vom neuesten Artikel des geschätzten Marcus Raitner wird es Zeit die etwas eingeschlafene Reihe "Denn sie wissen nicht, wen sie rekrutieren" wieder fortzuführen. Im Artikel geht es um die (autobiografische?) Geschichte eines Menschen der sich zum ersten mal im Leben bei einem Konzern bewirbt, und von seinem Befremden angesichts der ihm dort begegnenden Formalismen und Bürokratien. Obwohl er natürlich nur einen Einzelfall beschreibt ist er symptomatisch für ein grundlegendes Phänomen.

Seit auch die grossen Organisationen die Agilität für sich entdeckt haben (und umgekehrt) prallen bei den Ausschreibungs- und Einstellungsprozessen zwei Welten aufeinander. Auf der einen Seite die Personalabteilungen, die mit grösster Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass das "seit langem bewährte" Vorgehen auch weiterhin das Richtige ist, auf der anderen Seite die in der agilen Bewegung sozialisierten Fachkräfte, die diesen von ihnen als anachronistisch empfundenen Routinen mit Fassungslosigkeit gegenüberstehen.

Beide Sichtweisen lassen sich nachvollziehen. Die Personalstellen sind jahrzehntelang durch Taylorismus und (Pseudo-)Lean Management so optimiert worden, dass sie die eingehenden Bewerbungen in möglichst einheitlichem Format erwarten. Das ist schliesslich die Voraussetzung dafür, dass sie alle möglichst schnell den selben Bearbeitungsvorgang durchlaufen können. Branchenerfahrung? Check. Führungserfahrung? Check. Budgetverantwortung? Check. Ab in die zweite Auswahlstufe. Um sich jeden Kandidaten genau anzusehen fehlt einfach die Zeit.

Darüber hinaus sind sie (oft unbewusst) in einen beruflichen Standesdünkel hineinsozialisiert worden. Bei einem Automobilbauer zu schaffen, Banker zu werden oder bei einem Verlag zu arbeiten ist Errungenschaft und Ehre, dafür soll sich der Bewerber ruhig anstrengen, und zwar so, dass man es sieht. Mit makellosem Lebenslauf und überzeugenden Argumenten warum man denn gerade ihn nehmen sollte. Flüssig formuliert, ansprechend formatiert und auf hochwertigem Papier eingereicht bitteschön.

Auf der anderen Seite die vom Fachkräftemangel selbstbewusst gemachten Bewerber. Im eigenen Projektportfolio steht doch übersichtlich und nachvollziehbar drin was man gemacht hat, welchen Wert soll es haben das chronologisch anzuordnen? Und dann die Kategorien. Budget- und Führungsverantwortung sind doch für Lead Developer und Scrum Master irrelevant. Und warum gibt es trotz so vieler geforderter Pflichtangaben keine in die die Mob Programming Skills und der Link zum eigenen Open Source-Projekt passen würden?

Auch der Standesdünkel ist da, allerdings umgekehrt. Konzern? Allein der Begriff klingt schon nach Cobol. Da kann man gespannt sein ob die auch nur annähernd den gleichen Techstack bieten können wie das Fintech in der Innenstadt. Und hoffentlich halten die nicht an solchen Relikten des 19. Jahrhunderts fest wie Krawatten und festen Arbeitsplätzen. Zumindest kann man ja wohl erwarten, dass für Bewerbungen auch eine 40 Jahre alte Technologie wie die Email akzeptiert wird.

Sollte es dann trotz all dieser Hindernisse doch zu einem Job-Interview kommen, werden die Differenzen häufig erst richtig sichtbar. Während die Konzern-Seite davon ausgeht, dass der Bewerber hier nach seiner Lebensstellung sucht will dieser nur "ein paar spannende Jahre" erleben, und während die Personalerin stolz von der Betriebsrente und der Betriebssportgemeinschaft erzählt will ihr Gegenüber über Homeoffice und Slacktime reden. Das alles gerinnt in Wortwechseln wie diesem hier: "Wo sehen sie sich in drei Jahren?" "Keine Ahnung, so lange will ich hier nicht bleiben."1

Bis vor nicht allzulanger Zeit hätten diese Differenzen dazu geführt, dass diese "unpassenden" Bewerber einfach aussortiert wurden. Aber das ist vorbei, die zunehmende Agilisierung, Digitalisierung, Automatisierung und Cloudifizierung sorgt dafür, dass grosse Firmen froh sein können wenn sie ihren Bedarf überhaupt gedeckt bekommen. Und jetzt stehen die Personalabteilungen vor einem Problem: nicht nur können sie die Ansprüche der begehrten Fachkräfte kaum befriedigen ohne die eigenen, "seit langem bewährten" Vorgehensweisen in Frage zu stellen, oft wissen sie gar nicht welche Ansprüche das sind. Und dann das Schlimmste: sobald diese ermittelt wurden ändern sie sich.

Um die in der agilen Bewegung sozialisierten Arbeitnehmer verstehen zu können und um auf ihre Ansprüche eingehen zu können bleibt den Personalern letztendlich nur ein Weg übrig: selbst agil werden. Das ist nicht immer einfach und nicht immer angenehm, wenn es nicht stattfindet drohen aber immer mehr Geschichten wie die von Marcus Raitner. Und dann mit der Pointe dort nicht angeheuert zu haben.


1Der Verfasser dieser Zeilen war amüsierter Zeuge.

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