Montag, 16. März 2020

Von schwarzen und grauen Schwänen

Bild: Wikimedia Commons / Squacco - CC BY-SA 2.0
Zu den Begriffen die im Rahmen der Berichterstattung über den Coronavirus-Ausbruch immer wieder genannt werden gehört der "Schwarze Schwan" (z.B. hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier), mit dem ausgedrückt werden soll, dass es sich um einen schweren Ausnahmefall handelt. Erklärt wird er allerdings nicht immer. Anlass genug für ein bisschen Nachforschung - was hat es mit dieser Metapher auf sich? Und wird sie überhaupt korrekt verwendet?

Definiert durch John Stuart Mill und Nassim Taleb basiert sie auf der bis ins 18. Jahrhundert üblichen Redensart "so wahrscheinlich wie ein schwarzer Schwan", mit der ausgedrückt werden sollte, dass etwas völlig unmöglich ist. Der Hintergrund war, dass alle damals bekannten Schwanen-Arten weiss waren. Dieses Sprichwort wurde gegen 1700 widerlegt, als in Australien schwarze Schwäne entdeckt wurden. Das scheinbar Unmögliche war Realität geworden.

In Anlehnung an diese historische Kuriosität verwandten Mill und Taleb den Begriff des schwarzen Schwans als Beschreibung für ein extrem unwahrscheinliches Ereignis, das dann plötzlich doch eintritt. Und während Mill es dabei beliess definierte Taleb (auf dessen gleich benanntes Buch die heutige Verwendung zurückgeht) den Begriff weiter aus. Für ihn gehören (neben anderen, die eher für die rückblickende Betrachtung relevant sind) folgende Charakteristika dazu:
  • völlige Unvorhersehbarkeit und Unvorstellbarkeit
  • plötzliches Auftreten ohne Vorwarnung
  • schwere Konsequenzen1
In gewisser Weise also eine etwas ausführlichere Erläuterung von Donald Rumsfelds Unknown Unknowns.

Angewandt auf die gegenwärtige Situation fällt auf, dass diese Kritierien hier nicht alle gegeben sind. Selbst wenn es in der jüngeren Vergangenheit keine derartigen Pandemien in der westlichen Welt gegeben hat, in anderen Weltgegenden und etwas weiter in der Vergangenheit auch in Europa gab es sie durchaus. Russische Grippe, Spanische Grippe, Asiatische Grippe, Ebola-Fieber, SARS, Schweinegrippe und MERS sind bekannte Fälle der letzten 150 Jahre, SARS und MERS sind dabei sogar mit den aktuell umgehenden Coronaviren verwandt.

Der Begriff des Schwarzen Schwans dürfte damit sowohl nach der Definition von Mill als auch nach der von Taleb eher unpassend sein, denn selbst wenn das Ausmass ohne historischen Vergleich sein mag, das Auftreten einer globalen Krankheit ist es nicht. Passender für die Beschreibung dürfte die ebenfalls von Taleb geprägte abgeschwächte Variante sein, der "Graue Schwan". Dieser ist definiert als ein zwar sehr seltenes aber bekanntes Phänomen, das in ungeahnter Stärke und Plötzlichkeit auftritt. Auf die Coronavirus-Pandemie trifft das zu.

Soweit die Begriffsabgrenzung, jetzt zur finalen Frage: hat diese Differenzierung noch einen Mehrwert über geisteswissenschaftliche Wortklauberei hinaus? Ja, hat sie, denn die Erwägung der vorbeugenden Massnahmen die in den beiden Fällen ergriffen werden können sind jeweils andere. Im Fall des Grauen Schwans kann kontrafaktisches Denken helfen, also die Überlegung wie eine bereits bewältigte Krise noch schlimmer hätte enden können.2 Im Fall des Schwarzen Schwans hilft es nur alle Abläufe und Strukturen so zu optimieren, dass schnelle Entscheidungen möglich sind sobald eine solche Situation eintritt.


1Letzteres natürlich nicht von den australischen Schwänen abgeleitet sondern dazudefiniert
2Dieses Vorgehen führte z.B. zu den erstaunlichen Erfolgen bei der Corona-Bekämpfung in Taiwan

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