Montag, 18. Juli 2016

Kritischer Rationalismus


Vielleicht habe ich doch mehr aus meinem Studium in meinen Beruf übertragen als ich dachte - aus einer Diskussion mit einem alten Studienfreund habe ich mitgenommen, dass das was ich im Rahmen von Organisationsentwicklung mache, viel mit dem Kritischen Rationalismus zu tun hat, über den ich damals Klausuren schreiben durfte. Das Zitat oben auf dem Bild sagt im Grunde alles aus:
Alle Aussagen müssen an der Erfahrung überprüfbar sein, müssen sich in der Konfrontation mit der Realität bewähren. Mit anderen Worten: Alle Aussagen einer empirischen Wissenschaft müssen - sofern sie unzutreffend sind - prinzipiell an der Erfahrung scheitern können.
Karl Popper, Logik der Forschung
Vor allem eine Variation des letzten Satzes trage ich schon seit Jahren jedem meiner Kunden vor: "Alle Maßnahmen müssen an der Realität scheitern können." Hinter dieser Aussage steckt ein Ansatz der allgemein als datengetrieben (data driven) bezeichnet wird und nichts anderes tut als das gute alte Inspect & Adapt auf eine empirische Basis zu stellen: jede Maßnahme sollte mit einem messbaren Ziel verbunden sein, damit sich feststellen lässt ob sie wirksam ist oder nicht. Die in diesem Zusammenhang notwendige empirische Validierung beginnt idealerweise bereits mit der initialen Formulierung. Statt sie um eine vermeintliche Kenntnis kausaler Zusammenhänge herum aufzubauen (Um mehr Kunden zu bekommen bauen wir mehr blinkende Banner ein) sollte sie als widerlegbare Hypothese formuliert sein (Wenn auf jeder Webseite mindestens ein blinkendes Banner zu sehen ist gewinnen wir mindestens 100 neue Kunden).

Aufbauend auf diese Fomulierung sollte dieses Widerlegen dann versucht werden, und zwar durch einen transparenten Vergleich von Hypothese und Ergebnis. Dabei ist es von wesentlicher Bedeutung, dass nicht versehentlich doch eine Belegung oder Verifizierung der Hypothese im Mittelpunkt steht, sondern die zentrale Komponente des kritischen Rationalismus, die Falsifizierung oder eben Widerlegung. Hintergrund ist, dass man bei Verifizierungen immer wieder auf Vermutungen angewiesen ist (wir haben 100 neue Kunden, das muss an den blinkenden Bannern liegen), während die Falsifizierungen klarere Aussagen zulassen (im Vergleich zu Produkten mit blinkenden Bannern haben die Produkte ohne blinkende Banner genauso viele Neukunden, die Maßnahme ist also wirkungslos).

Einige der erfolgreichsten agilen Unternehmen wie z.B. Netflix oder Spotify setzen bei der Produktentwicklung durchgehend darauf, Hypothesen in Experimenten zu überprüfen und rollen Neuheiten erst dann komplett aus, wenn sie nicht falsifizierbar sind. Der Erfolg ihrer Produkte gibt ihnen recht. Im Umkehrschluss ist das auch ein Grund dafür, dass viele Großkonzerne mit ihren "innovativen" Produkten nur mittel bis wenig erfolgreich sind - da hier oft eine Kultur des keine Fehler machen dürfens vorherrscht kann sich niemand die Falsifikation seiner Hypothesen erlauben, da ihr Eintreten als Versagen gesehen würde und Karrieren beschädigen könnte. Um sicher zu sein versucht man es meistens gar nicht erst.

Letztendlich folgt aus dem Gesagten eine Schlusspointe - der auf den ersten Blick negative, destruktive und auf Falsifikation fixierte Ansatz des Kritischen Rationalismus entpuppt sich bei näherer Betrachtung als durchaus menschenfreundlich: Fehler werden in ihm nicht nur toleriert sondern sogar zum Zweck des Erkenntnisgewinns bewusst in Kauf genommen. Die Folge ist eine angstfreie Arbeitsumgebung, etwas das weit weniger selbstverständlich ist als man glauben sollte.

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