Montag, 6. Januar 2025
PMI goes Agile (III) - and the Agile Alliance goes PMI
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Screenshot: agilealliance.org |
Wer sich als Mitglied der agilen Bewegung am ersten Januar-Wochenende des Jahres 2025 in die sozialen Medien begeben hat, der wird an einem Thema nicht vorbeigekommen sein: dem Beitritt der Agile Alliance zum Project Management Institute (PMI), verbunden mit den üblichen Schnellschuss-Kommentaren (Agile is dead, PMI wird jetzt agil, etc.). Die kann man bedenkenlos ignorieren, die Frage aber bleibt - was ist da eigentlich passiert? Gehen wir die wichtigsten Punkte durch.
Wer sind Agile Alliance und PMI?
Bei beiden handelt es sich um Berufsverbände, denen sowohl Einzelpersonen als auch andere Organisationen angehören können. Das PMI wurde bereits 1969 gegründet und hat als Ziel die Entwicklung von Best Practices im klassischen Projektmanagement, wozu es auch mehrere Zertifizierungen vergibt. Die Agile Alliance besteht erst seit 2001 und hat das gleiche Ziel, wenn auch mit einem deutlich schärferen Fokus, der naheliegenderweise auf den agilen Methoden und Praktiken liegt.
Wie genau sieht der Beitritt aus?
Einseitig. Die Agile Alliance ändert ihren Namen in "PMI Agile Alliance", Vorstand und Stabsstellen der Agile Alliance welchseln zum Project Management Institute und wie aus den Informationsmails an die Mitglieder der Agile Alliance hervorgeht, werden die bisherigen Initiativen zukünftig "with PMI’s infrastructure and strategic oversight" weitergeführt. Wie auch immer das konkret aussehen wird, ein Zusammenschluss auf Augenhöhe ist es nicht.
Warum führt dieses Zusammengehen in der agilen Community zu vielen heftigen Reaktionen?
Zunächst, weil die Agile Alliance die agile Bewegung massgeblich gestaltet hat. De facto fand ihre Gründung am selben Tag und Ort statt wie die Verfassung des Manifest für agile Softwareentwicklung, dessen Verfasser sich direkt im Anschluss diesen Namen gaben.1 Während der ersten Jahre war die Agile Alliance damit der einzige agile Berufsverband und ihre Konferenz (die einfach Agile + Jahreszahl heisst, z.B. Agile 2025) die einzige agile Konferenz. Sie hat also eine historisch bedingte hohe Symbolik.
Ausserdem weil viele Mitglieder der agilen Bewegung sich als Teil eines bewussten Gegenentwurfs zum traditionellen Projektmanagement verstehen, und gleichzeitig im PMI die Verkörperung all dessen sehen, was sie ablehnen: schwergewichtige Strukturen und Prozesse, zahlreiche Anleitungen und Vorschriften, umfangreiche Dokumentationspflichten, etc. Der Beitritt der Agile Alliance zum PMI fühlt sich für diese Menschen wie ein Verrat, bzw. eine feindliche Übernahme an.
Zuletzt war die Agile Alliance die einzige grössere unter den nach und nach entstehenden agilen Branchenorganisationen, die sich der Kommerzialisierung durch den Verkauf von Zertifizierungen verweigert hat, bzw. darauf bestanden hat, dass diese nicht nur auf Wissensprüfungen sondern vor allem auf Praxiserfahrungen beruhen müssten.2 Vor diesem Hintergrund ist das Zusammengehen mit dem PMI, das ausschliesslich wissensbasierte Zertifizierungen anbietet, nochmal kontroverser.
Warum findet es dann statt?
Vereinfacht gesagt: weil die Agile Alliance pleite ist. Mit der Zeit hat sie einen immer grösseren Kostenapparat entwickelt, der von Hosting-Kosten bis hin zu Reisekostenerstattungen alles Mögliche umfasst. Wie man bei den Mitgründern Mike Cohn und Ron Jeffries nachlesen kann, haben die Mitgliedbeiträge nie gereicht um das zu decken. Das ging nur über die Einnahmen aus der Konferenz, die durch Covid-Pandemie und Wirtschaftskrisen eingebrochen sind.3 Es ist also eine Sanierungsfusion.
Wie schlimm ist das alles?
Je nach Betrachtungsweise sehr bis gar nicht. Dass das PMI jetzt die "agile Ur-Organisation" absorbieren und ggf. in Teilen (z.B. bei den Zertifikaten) in ihr Gegenteil verkehren könnte, ist von einem nostalgischen Blickpunkt aus natürlich eine besorgniserregende Perspektive. Andererseits hat PMI bereits viele agile Inhalte übernommen, nicht nur durch den Kauf der Disciplined Agile-Zertifizierungs-Organisation, sondern auch durch eine Anpassung der eigenen Inhalte. Es gibt also Schnittmengen.
Über die Agile Alliance muss man gleichzeitig auch sagen, dass sie zwar zu den aufrechten Bewahrern der ursprünglichen Praxis- und IT-nahen agilen Prinzipien und Praktiken gehört, es aber nicht geschafft hat, sich ihre ursprüngliche Bedeutung zu bewahren (ironischerweise auch wegen ihrer Kommerzialisierungs-Veigerung, während z.B. die Scrum Alliance durch Zertifizierungen gross und reich wurde). Die heutige Mehrheit der weltweiten Agile Coaches und Scrum Master dürfte noch nichtmal von ihr gehört haben.
Und zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass die Agile Alliance der agilen Bewegung schon lange keine neuen relevanten Impulse mehr geben konnte. Gerade in den letzten Jahren hat sich stattdessen eher der Sog der Addition bemerkbar gemacht - auf einmal gab es hier Initiativen, die für den Umweltschutz oder gegen den Rassismus kämpfen wollten. Sehr ehrenhaft, aber für einen IT- und Projektmanagement-Fachverband etwas abwegige Themen. Teile der Kern-Klientel hat das eher abgeschreckt.4
Und jetzt?
Und jetzt warten wir ab was passiert. Der grosse Gewinner der ganzen Geschichte ist das Project Management Institute, das ab jetzt den eigenen (halb-)agilen Anzatz mit einer Tradition legitimieren kann, die sich lückenlos bis zum Manifest für agile Softwareentwicklung zurückverfolgen lässt. Ob man die Agile Alliance irgendwie weiterbestehen lässt, sie ins eigentliche PMI absorbiert oder versucht sie mit dem eigenen Zertifizierungs-Brand Disciplined Agile zu verschmelzen wird sich noch zeigen.
Und für alle, die nicht in einer der beiden Organisationen Mitglied sind, und die kein gesteigertes Interesse an der Geschichte der agilen Bewegung oder des IT-nahen Projektmanagement-Verbandswesens haben, gilt: bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts Interessantes zu sehen, ausser einem Sturm im Wasserglas.
2solche Zertifizierungen haben sich im agilen Bereich nie etabliert und wären vermutlich auch nie ein Business Case geworden
3Anscheinend hat die Agile Alliance für ihre Konferenz auch langfristige Verträge abgeschlossen, aus denen sie nicht herauskommt
4Auf Linkedin waren nach der Bekanntgabe des Zusammengehens viele Beiträge mit diesem Tenor zu lesen
Donnerstag, 8. Dezember 2022
Organisierte Agilität
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Bild: Pexels / Ketut Subiyanto - Lizenz |
Wer bestimmt eigentlich was die Bedeutung und Inhalte der Agilen Produktentwicklung sind? Die Wissenschaft? Die Internationale Organisation für Normung? Das Bundessortenamt? Tatsächlich keine von denen, sondern eine historisch gewachsene Gruppe von Verbänden und Unternehmen bestimmt die öffentliche Wahrnehmung. Ihre Zusammensetzung hat sich in der Vergangenheit geändert und wird es in Zukunft vermutlich wieder tun, zur Zeit sind es aber diese hier:
Agile Alliance
Obwohl im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannt ist die Agile Alliance die älteste und in ihrem Gesamtwirken bedeutendste unter den "agilen Organisationen". Die Verfasser des Manifests für agile Softwareentwicklung bezeichneten sich bereits selbst als Agile Alliance und behielten diesen Namen bei als sie 2001 ihre Organisation formalisierten und für andere öffneten. Heute veranstaltet die Agile Alliance Konferenzen, fördert weltweit User Groups und kuratiert Literatur. Als eine von nur wenigen Organisation in dieser Liste verkauft sie keine Zertifizierungen und ist nicht mit einem bestimmten Framework verbunden.
"Scrum GbR"
Zugegeben, unter diesem Namen tritt die "Scrum GbR" nur auf dieser Seite auf. Die Zusammenarbeit der beiden Scrum-Erfinder Ken Schwaber und Jeff Sutherland hat keine explizite Rechts- oder Organisationsform, wodurch sie in Deutschland automatisch zu einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts würde. Mit dem Scrum Guide verantworten und aktualisieren die beiden das neben dem Agilen Manifest wichtigste Dokument der agilen Bewegung, auf das sie mit jeweils separaten Organisationen aufbauen (siehe weiter unten).
Scrum Alliance
Die Scrum Alliance war 2001 die erste Organisation die nur einem Teilaspekt der Agilität gewidmet wurde: sie ist mit einem spezifischen Framework (Scrum) verbunden und sie hat im Jahr 2002 die ersten agilen Zertifizierungen überhaupt verkauft. Da sie als Verband gleichzeitig den Anspruch verfolgt Teil einer globalen Scrum-Community zu sein und hier auch viel Gutes tut, hat sie gleichermassen einen guten und zweifelhaften Ruf. Gut wegen ihrer Förderung von User Groups und Chapters auf der ganzen Welt, zweifelhaft weil der heutige agil-industrielle Komplex auf ihre regelmässig kostenpflichtig zu erneuernden Zertifizierungen zurückgeht.
Scrum.org
Der Verband Scrum.org wurde 2010 von Ken Schwaber, einem der beiden Erfinder von Scrum, als Reaktion auf die zunehmende Kommerzialisierung der Scrum Alliance gegründet. Zwar werden auch hier Zertifizierungen verkauft, sie sind aber deutlich billiger als die der Scrum Alliance und sie sind dauerhaft gültig, müssen also nicht immer wieder erneuert werden. Umgekehrt ist die Community-Förderung deutlich restriktiver als bei der Scrum Alliance, nur von zertifizierten Trainern organisierte Gruppen werden gefördert. Zusätzlich zum eigentlichen Scrum hat Scrum.org mit Nexus ein eigenes Skalierungsframework entwickelt.
Scrum Inc.
Die erste rein kommerzielle Organisation in dieser Liste. Die Scrum Incorporation ist die Firma von Jeff Sutherland, dem anderen der beiden Erfinder von Scrum. Es handelt sich um eine Unternehmensberatung die bei der Einführung von Scrum hilft und Zertifizierungs-Lehrgänge anbietet, ursprünglich für die Scrum Alliance, mittlerweile für eigene Zertifizierungen. Auch Scrum Inc. hat mit Scrum@Scale ein eigenes, auf Scrum aufsetzendes Skalierungsframework entwickelt, das aus dem 1996 eingeführten Scrum of Scrums-Meeting hervorgegangen ist und damit das älteste agile Skalierungsframework überhaupt darstellt.
"Spotify Model Complex"
Ein kurioser Fall. Das so genannte "Spotify Model" war ursprünglich nur als Erfahrungsbericht oder Fallstudie aus einem Einsatz des Agile Coaches Henrik Kniberg gedacht, da dieser Bericht aber "zu überzeugend" geraten ist wurde es von zahllosen Unternehmensberatungen kommerzialisiert und als Blaupause für agile Skalierung verwendet - obwohl seine Urheber immer wieder betonen, dass das nie so beabsichtigt war, und dass es selbst an seinem Ursprungsort schon nach kurzem nicht mehr in dieser Form eingesetzt wurde. Ungeachtet dessen hat das Spotify Model mittlerweile einen Verbreitungsgrad wie kaum ein anderes Skalierungsframework (vermutlich mit Ausnahme von SAFe, siehe unten).
Kanban University
In gewisser Weise die Kanban-Entsprechung der Scrum Alliance. Ursprünglich vom Manager und Berater David J. Anderson als Lean Kanban University gegründet, hat sich die Kanban University verdient gemacht indem sie die Methode aus der Hardware-Fertigung in die Wissensarbeit übertragen und zu diesem Zweck ausgebaut und mit einem Regelwerk versehen hat. Gleichzeitig ist sie ebenfalls in das Geschäft mit den Zertifizierungen eingestiegen, was auch ihr den Vorwurf übermässiger Kommerzialisierung eingetragen hat.
Flight Levels Academy
Zu Beginn eine Abspaltung der Kanban University hat sich die Flight Levels Academy nach und nach von ihrem Kanban-Ursprung gelöst und sich zu einem übergreifenden Business Agility Framework entwickelt, das den Schwerpunkt auf möglichst leichtgewichtige und flexible Interaktionen zwischen den einzelnen Unternehmensteilen legt und in grösseren Firmen langsam populärer wird. Aufgrund der Erfindung des Flight Level-Ansatzes durch Klaus Leopold hat die Flight Levels Academy als einzige "agile Leitorganisation" einen Ursprung im deutschsprachigen Raum. Und ja, Zertifizierungen gibt es auch.
Scaled Agile Inc.
Die kommerziell erfolgreichste Ausprägung organisierter Agilität überhaupt. Obwohl das dahinterstehende "Scaled Agile Framework" (SAFe) im Grunde sehr schlicht ist haben eine gekonnte Vermarktung und ein auf die Spitze getriebenes Geschäft mit teuren, schnell ablaufenden Zertifizierungen dafür gesorgt, dass Scaled Agile Inc. wahlweise anerkennend oder verabscheuend als die Verkörperung des agil-industrielle Komplexes schlechthin wahrgenommen wird (ein manchmal zweifelhaftes Geschäftsgebaren trägt sicher nicht zur Besserung dieses Rufs bei). Für viele Manager sind SAFe und agile Skalierung mittlerweile Synonyme.
Disciplined Agile
Ein Nachzügler. Disciplined Agile (früher Disciplined Agile Delivery) war ursprünglich eines der ersten agilen Frameworks, wurde aber 2019 vom Project Management Institute (PMI) gekauft und weitgehend umgebaut. Bis heute wirkt das Ergebnis noch stellenweise konfus und inkonsistent, durch die dahinterstehende PMI-Marketingmaschine wird das Framework aber nach und nach sichtbarer, selbst wenn man noch immer kaum Anwendungsfälle findet und kaum jemand die Zertifizierungen kennt. Dass es Disciplined Agile aber überhaupt schafft, sich neben den Platzhirschen Scrum, Kanban und SAFe zu platzieren ist bereits beachtlich, das ist im letzten Jahrzehnt fast keinem anderen gelungen.
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Wie man es bewerten will, dass ausgerechnet diese zehn sehr unterschiedlichen Zusammenschlüsse und Organisationen zur Zeit weitgehend definieren was unter Agilität zu verstehen ist bleibt natürlich jedem selbst überlassen. Und wer es möglicherweise schaffen wird in diese Liga vorzustossen wird spannend zu beobachten sein, an aktuellen Beispielen wie The Flow System, FAST und unFIX und an älteren wie XP und Modern Agile kann man sehen wie schwer es ist, Sichtbarkeit zu gewinnen und zu behalten. Wenigstens ist die Landkarte der organisierten Agilität divers, das ist zumindest etwas Positives.
Dienstag, 14. September 2021
Der agil-industrielle Komplex
Zu den Begriffen an denen man früher oder später vorbeikommt, wenn man sich näher mit dem Thema der "organisierten Agilität" beschäftigt, gehört der "agil-industrielle Komplex". Gemeint ist damit eine Gruppe von Firmen und Verbänden (u.a. Beratungen, SAFe, Scrum Alliance und Kanban University), denen die Überkommerzialisierung der Agilität unterstellt wird, bis hin zu einer so starken Anpassung an die Vertriebsinteressen, dass dadurch die ursprünglichen Ideale überlagert und verdrängt werden.
Um in derartigen Diskussionen mitreden zu können ist hier der Kontext. Geprägt wurde der Begriff 2016 von Daniel Mezick, einem amerikanischen Unternehmensberater. Der Name nimmt direkten Bezug auf den Begriff des militärisch--industriellen Komplexes, eines Schlagwortes aus den 60er Jahren, mit dem davor gewarnt wurde, dass Rüstungsunternehmen aus Profitgier versuchen könnten, selbst einen Bedarf nach ihren Gütern zu erzeugen, statt nur die Lieferaufträge der Politik zu erfüllen.
In Analogie dazu lautet der Vorwurf an die oben genannten Organisationen, dass es ihnen mittlerweile nicht mehr darum gehen würde, die Arbeitswelt bei ihren Kunden zu verbessern, sondern dass eher die eigenen Profite im Vordergrund stehen. Ein zentraler Kritikpunkt ist dabei die Erfindung immer neuer Zertifizierungen, deren Nutzen für den Anwender mitunter fragwürdig ist (ein zweiter ist die häufig fragwürdige Art des "Ausrollens von Agilität" in Unternehmen, mehr dazu weiter unten).
Aber - sind SAFe, Scrum Alliance und Kanban University wirklich die gewissenlosen Schlangenöl-Verkäufer, als die sie in der oft beissenden Kritik immer wieder dargestellt werden (siehe hier und hier)? Wie immer hilft auch hier eine differenzierte Betrachtung, die auch gerne Elemente von Systhemtheorie enthalten darf, und dankenswerterweise gibt es auch die bereits. Beispielhaft sind z.B. die Ausführungen von Ron Jeffries, einem der Erfinder von XP und einem der Verfasser des agilen Manifests.
Jeffries stellt in den Mittelpunkt seiner Überlegungen die Frage, wer eigentlich die Kunden der grossen Zertifizierungsorganisationen sind und kommt zu der Antwort, dass es sich bei ihnen nicht um die Empfänger der Zertifizierungen handelt, sondern um die zwischen den Zertifizierungsorganisationen und den Zertifizierten angesiedelten Anbieter der Zertifizierungsschulungen, deren Absolvierung eine Voraussetzung für die Verleihung eines Zertifikats ist.
Die von den Schulungsanbietern an die Zertifizierungs-Organisationen abgeführten Lizenzgebühren bilden deren Haupteinnahmequelle, was dazu führt, dass die Inhalte mehr und mehr darauf optimiert werden, in kurzen Trainings (ein bis zwei Tage) vermittelt werden zu können. Und dass die Schulungs-Anbieter sich auf diese Trainings konzentrieren liegt wiederum an deren zahlende Kunden, bei denen es sich meistens nicht um die Zertifizierungs-Empfänger handelt sondern um deren Arbeitgeber.
Dass diese Arbeitgeber (bzw. deren HR-, Change Management- oder Learning & Development-Abteilungen) derartig auf diese möglichst kurzen Trainings fixiert sind, hat wiederum meistens seine Ursache in einer Kombination aus Effizienz-Überoptimierung und Silo-Bildung. Das Erste führt dazu, dass versucht wird, Lerninhalte und -zeiträume möglichst stark zu komprimieren, das Zweite hat zur Folge, dass die dadurch entstehenden Dysfunktionen von der beauftragenden Einheit nicht gespürt werden.
Denkt man Jeffries' Überlegungen auf diese Weise weiter, werden diese Effekte durch die Arbeitsweisen (und Beauftragungen) vieler grosser Unternehmensberatungen verstärkt, welche die von ihnen begleiteten Veränderungsvorhaben in der Regel mit dem klaren Auftrag angehen, die damit verbundene Umbruchphase so kurz wie möglich zu halten. Und was liesse sich in kürzerer Zeit erreichen und als Erfolg vermelden als die durchgeführte Schulung und Zertifizierung aller Mitarbeiter?
Zur "Vervollkommnung" getrieben werden diese Zustände schliesslich durch die internen Abläufe vieler grosser Firmen. Relativ kurze Management-Amtszeiten führen hier dazu, dass das Melden unrealistisch optimistischer Zwischenstände, verbunden mit einem Verschieben von Problemlösungen in die Zukunft, für die eigene Karriere förderlich ist. Bedingt dadurch kommt es zu den genannten Beauftragungen jener Beratungen, die möglichst schnelle und einfache Lösungen versprechen.
Und damit sind sie aufgezählt, die wesentlichen Hauptakteure des agil-industriellen Komplexes und ihre Motive. Zertifizierungsorganisationen die von Schnelltrainings-Anbietern finanziert werden, welche von Unternehmensberatungen instrumentalisiert werden, die wiederum von Unternehmen beauftragt werden, deren interne Prozesse eher auf schnelle Scheinerfolge als auf nachhaltige Veränderungen ausgelegt sind. Ein Pandämonium.
Positiv gedacht ergibt sich aus diesen Zusammenhängen aber auch der grosse Hebel, mit dem diese Missstände sich wieder beheben lassen. In dem Moment, in dem die vor Veränderungen stehenden Unternehmen sich eher auf nachhaltige als auf schnelle Erfolge focussieren würden, geriete die gesamte "Nahrungskette" des agil-industriellen Komplexes in Bewegung. Zertifizierungen und andere Scheinerfolge würden weniger nachgefragt, der dazugehörende Markt würde austrocknen.
Tatsächlich ist diese Veränderung sogar bereits im Gang, zahlreiche Firmen verzichten schon jetzt auf die Illusion des schnellen Erfolgs und arbeiten stattdessen langsam aber stetig an ihren Prozessen und Strukturen. Letztendlich ein wesentlich besserer Ansatz gegen die Überkommerzialisierung der Agilität als das Konstruieren sinistrer "Komplexe" an Stellen wo in Wirklichkeit nur der Markt eine real existierende Nachfrage bedient.
Montag, 10. August 2020
PMI goes Agile
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Screenshot: pmi.org |
Zu den bei näherer Überlegung erstaunlichen Phänomenen im Umfeld der agilen Vorgehensweisen gehörte bisher das fehlende Engagement der klassischen Projektmanagement-Organisationen. Obwohl diese Art zu arbeiten immer weiter um sich greift und selbst zum Millionenmarkt geworden ist sind die klassischen Standardisierungs- und Zertifizierungs-Anbieter praktisch nicht wahrnehmbar. Noch weitgehend unbemerkt hat aber vor einigen Monaten ein Versuch begonnen das zu verändern.
Im Sommer 2019 wurde das Disciplined Agile Consortium, Besitzer des relativ unbekannten Skalierungsframeworks DAD (Disciplined Agile Delivery), vom Project Management Institute (PMI) gekauft. Das PMI, neben Axelos eine der beiden grossen internationalen Projektmanagement-Organisationen, hat in den folgenden Monaten vor allem an der internen Integration des Zukaufs gerarbeitet, seit Sommer 2020 ist aber auch von aussen erkennbar wohin die Reise gehen wird.
Aus dem neuen DAD-Bereich der PMI-Website lassen sich einige zentrale Weichenstellungen ablesen. Die vermutlich wichtigste: DAD (bzw. dessen Ableitung, die "Disciplined Agile Toolbox") wird explizit als Hybrid-Framework vermarktet, also als eines das auch Teile von klassischem Projektmanagement enthält. Das ist ein deutlich anderer Weg als der von LeSS, Nexus, Kanban University und SAFe, die alle den Anspruch erheben rein agile Methoden zu vertreten.
Eine weitere zentrale Entscheidung scheint zu sein, dass bewusst darauf verzichtet wird die Teams der Ausführungsebene als Scrum Teams zu bezeichnen. Das ist eine klare Unterscheidung zu LeSS, Nexus und SAFe und dürfte ein vorbeugender Befreiungsschlag gegen den Vorwurf sein, Scrum verkrüppelt oder nicht verstanden zu haben. Das dieser zu erwarten gewesen wäre ist angesichts der Team-Rollen offensichtlich - ganz klassisch gibt es hier den Teamleiter und den Architekten, zwar einen Product Owner aber dafür keinen Scrum Master.
Ebenfalls in ihren Auswirkungen nicht zu unterschätzen ist die PMI-typische Bereitschaft hochgradig umfangreiche Regelwerke zu schaffen. In seinem aktuellen Ausbaustand umfasst das DAD-Framework die vier Ebenen Delivery, DevOps, IT und Enterprise, in denen sechs verschiedene Produkt-Lebenszyklen abgebildet werden können: Agile, Lean, Agile Continuous Delivery, Lean Continuous Delivery, Lean Startup und Program. Dazu kommen Querschnittsorganisationen und Regeln und vieles mehr.
Interessant ist, dass DAD den Anspruch erhebt auf einer übergeordneten Ebene zu schweben, von der aus es alle anderen agilen und nicht-agilen Vorgehensmodelle als Baukästen nutzen kann um einzelne Elemente aus ihnen neu zu kombinieren. Diese versuchte Vereinnahmung dürfte zu ähnlichen Widerständen führen wie das vergleichbare Vorgehen von SAFe, wobei DAD ironischerweise auch SAFe lediglich als einen der besagten Baukästen aufführt.
Was zuletzt nicht fehlen kann sind die Zertifizierungen, die sowohl in der klassischen als auch in der agilen Arbeitswelt weit verbreitet sind. Hier ist am deutlichsten sichtbar, dass die Integration von DAD in das PMI noch nicht abgeschlossen ist. Auf der entsprechenden Übersichtsseite führen noch viele Links zu Einstellungs-Benachrichtigungen, Änderungsankündigungen oder Fahlermeldungen. Die einzige unveränderte Weiterführung scheint ausgerechnet (siehe oben) der Scrum Master zu sein.
Ob die PMI/DAD-Kombination sich am Markt durchsetzen wird ist natürlich noch nicht absehbar, als globale Organisation mit hunderttausenden Mitgliedern und hunderten lokalen Organisationen hat PMI aber eine gute Ausgangslage. Dem ersten Eindruck nach dürfte dabei vor allem SAFe der Konkurrent sein, die Positionierung und die Zielgruppe der beiden überschneiden sich stark. Es wird spannend zu sehen sein ob es hier zu einer Koexistenz oder zu einer Verdrängung eines der beiden kommen wird.
Donnerstag, 21. November 2019
Zertifizierungs-Overkill
Die Scrum Alliance hat in dieser Woche etwas missverständlich kommuniziert. Ihr neues Mitglied in ihrem "2020 Board of Directors" kündigte sie per Mail mit den folgenden Worten an: "Hello, Community. We’re very proud to officially announce our 2020 Board of Directors. The membership of Scrum Alliance elected Karim Harbott as the new Scrum Certified Member on the Board. Here is an excerpt from Karim’s candidacy page: ..."Ob dieser "Scrum Certified Member on the Board" ein selbstironischer Bezug darauf war, dass die Scrum Alliance in der Öffentlichkeit im Wesentlichen als Zertifizierungs-Vergabestelle wahrgenommen wird, oder eine missverständliche Umschreibung für einen Verteter der Scrum-Zertifikats-Inhaber - man weiss es nicht. Der Effekt war aber der: an Kaffetheken, in Twitterfeeds und Diskussionsgruppen rund um die Welt fragten sich verunsicherte Alliance-Mitglieder ob sie möglicherweise die Einführung der neuesten Management-Zertifizierung verpasst hätten.
Dass das überhaupt als ernstzunehmende Option in Betracht gezogen wurde hat einen Grund: seit einigen Jahren unterliegen die "Agilen Zertifizierungen" einer erstaunlichen Vermehrung. Neben die Scrum Alliance, die u.A. mit dem Certified Scrum Master die älteste Zertifizierung vergibt, ist mit der vom "Scrum-Vater" Ken Schwaber ins Leben gerufenen Scrum.org und ihrem Professional Scrum Master (und anderen) ein erster Wettbewerber getreten, der zweite Scrum-Gründer Jeff Sutherland ist mit dem Licensed Scrum Master seiner Firma Scrum Inc nachgezogen. Und noch reden wir nur über Scrum.
Mit der Lean Kanban University und ihrem Kanban Management Professional hat auch das zweite grosse agile Framework eine Zertifizierung, dazu kommen noch weitere, spezifischere Ausprägungen. Das International Requirements Engineering Board hat das Re@Agile-Zertifikat im Angebot, das International Software Testing Qualifications Board bietet die Agile Tester Extension. Natürlich ist auch irgendwie ein DevOps Institute entstanden, bei dem man zum Certified Agile Service Manager werden kann. Und jede dieser Organisationen bietet noch weitere Zertifizierungen, die hier sind nur Beispiele.
Auch das ist noch nicht alles. Seit die klassische, Top Down-getriebene Management-Bewegung reduzierte agile Ansätze auf den unteren Hierarchie-Ebenen zulässt wird auch hier zertifiziert. Beim Project Management Institute wird man Agile Certified Practitioner, Prince2 hat die Agile Practitioner Certification und die International Project Management Association vergibt die Agile Leadership Certification. Auch das Scaled Agile Framework mit seinen SAFe-Zertifikaten gehört in diese Kategorie.
Noch immer nicht genug? Kein Problem, die Zertifizierungen gehen bei den verschiedenen Anbietern noch weiter in die Breite und in die Tiefe. In der Breite stehen neben dem zertifizierten Scrum Master auch zertifizierte Product Owner, Entwickler und UX-Spezialisten, in der Tiefe findet eine Staffelung statt: Professional Scrum Master II, Professional Scrum Master III, Certified Agile Leader, Enterprise Kanban Coach und DevOps Leader zieren zweifellos jeden Lebenslauf und künden von teuer erkauften Kursen und gekonnt bestandenen Prüfungen.
Insgesamt kommen allein die bis hierher genannten Zertifizierungsanbieter auf eine mittlere zweistellige Zahl an möglichen Zertifizierungen. Noch nicht enthalten sind die zahllosen halb- und unseriösen Vergabestellen und die klassischen Zertifizierungsdienstleister (wie z.B. der TÜV und die IHK) die ihr Portfolio ebenfalls in Richtung Agilität erweitert haben sobald zu erkennen war, dass hier eine Nachfrage entsteht die man bedienen kann.
Als Folge dieser Entwicklung treten mittlerweile Overkill-Erscheinungen auf. Zunehmend ratlos stehen Personaler und Einkäufer vor der Frage ob ein CSP-SM oder ein PSM III wirklich so viel mehr wert sind als ein A-CSM oder ein PSM II, für Einzelpersonen ist nicht mehr nachvollziehbar welches Zertifikat ihnen helfen könnte, AKC und SDP sind sogar in Fachkreisen weitgehend unbekannt und der IHK-zertifizierte Agile Mindsetter löst nur noch ein Mittelding aus Fassungslosigkeit und Belustigung aus.
Letzten Endes kann man aber auch etwas Positives aus der Gesamtsituation ziehen. Je undurchsichtiger und unvergleichbarer die sich inflationär vermehrenden agilen Zertifizierungen werden, desto mehr werden Einzelpersonen, Personaler, Recruiter und Einkäufer darauf zurückgreifen müssen die Sinnhaftigkeit und das Vorhandensein der angestrebten oder verlangten Wissensgebiete, Qualifikationen und Erfahrungen selbst zu überprüfen. Und das - nicht die noch verbreitete Zertifikatsgläubigkeit - sollte ohnehin der Normalzustand sein.
Nachtrag 20.01.:
Die schiere Menge der angebotenen Zertifizierung erschliesst sich durch einen Blick auf diese Liste:
240 agile Zertifizierungen.
Montag, 2. Oktober 2017
Die Zertifizierungs-Tretmühle
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Bild: Freegreatpicture / Maxpixel - CC0 1.0 |
Von der geplanten Erweiterung des Zertifizierungsspektrums habe ich zum ersten mal letztes Jahr auf dem Global Scrum Gathering Munich gehört. In den dort stattgefundenen Diskussionen war der Konsens der, dass die bisherigen Zertifizierungen über die Jahre weitgehend entwertet worden sind. In manchen Unternehmen wurde das gesamte mittlere Management geschlossen in die Zertifizierungslehrgänge geschickt, zahllose Freelancer kleben sich das Siegel auf den Lebenslauf um ihre Kunden zu beeindrucken und Schulungsanbieter haben in den dazugehörigen Kursen eine Goldgrube entdeckt.
Bedingt durch diese Inflation beweisen die Zertifikate heute eigentlich nur noch zwei Dinge: a) ihr Inhaber hatte genug Geld für die Prüfungsgebühr und b) er ist in der Lage eine überschaubare Menge an Lernstoff auswendig zu lernen. Das zu ändern und die Zertifikate durch mehr Stoff und mehr Praxiserfahrung aufzuwerten ist zunächst ein nachvollziehbares Anliegen, aber selbst wenn es von der Zielgruppe angenommen werden sollte ist für mich fraglich ob das gesteckte Ziel damit erreicht werden wird.
In den Gesellschaftswissenschaften gibt es den Begriff der Euphemismus-Tretmühle, der besagt, dass jedes neutrale oder positive Wort mit dem man die Benutzung eines negativ geprägten Begriffs umgehen will irgendwann die negative Konnotation seines Vorgängerausdrucks annehmen wird, solange sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht verändern. Analog dazu glaube ich, dass wir uns gerade im Prozess einer "Zertifizierungs-Tretmühle" befinden.
Demnach findet im Moment Folgendes statt: eine Zertifizierung hat durch massenhafte Verteilung ihre Aussagekraft verloren und wird darum um eine "höhere Stufe" ergänzt. Auch die erleidet absehbar das selbe Schicksal, weshalb zur "Aufwertung" noch eine Stufe dazukommt, etc. Bereits nach kurzer Zeit wird die verästelte Hierarchie der entstehenden Zertifikate so groß, dass die meisten Menschen den Überblick verlieren2. Abgesehen von wenigen Experten weiss keiner mehr was sich im Einzelfall dahinter verbirgt.
Der Effekt ist, dass die Menschen sich am Ende nur noch genervt abwenden wenn das Gespräch auf dieses Thema kommt. Noch einmal eine Parallele zur Euphemismus-Tretmühle: ausserhalb winziger Milieus gilt heute jeder der von "LSBTTIQ-Menschen", "Professorx" oder "Person mit Migrationshintergrund ohne eigene Migrationserfahrung" spricht als weltfremder Wunderling mit dem Unterhaltung eher anstrengend werden. Wer zukünftig den Scrum Master in CSM, A-CSM und CSP-SM unterteilen will dürfte schnell in der selben Schublade landen, und das nicht einmal völlig zu Unrecht.
Nun ja. Wie man hier im Rheinland sagt: Et es wie et es. Mal sehen wie die Sache ausgeht.
1Dazu kommen die vor kurzem eingeführten Trainer-, Coach- und Leader-Zertifikate, die nochmal ein Thema für sich sind.
2Ich glaube, dass das gerade stattfindet.
Montag, 24. Oktober 2016
D-A-CH Chapter der Scrum Alliance ist im Aufbau
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Bild: Pixabay/Lusign - Lizenz |
Beim ersten Arbeitstreffen ging es um u.a. Themen wie gegenseitiges Coaching oder die Erarbeitung von Standards für Unternehmen, die Gruppe an der ich teilgenommen habe war aber die, die sich mit der Vernetzung, bzw. dem Aufbau der lokalen Events und User Groups beschäftigt hat. Ein Engagement in diesem Bereich halte ich grundsätzlich für wichtig, schließlich gehören Agilität und Subsidiarität für mich zusammen. Darüber hinaus scheint es in manchen Orten noch Nachholbedarf zu geben - selbst in großen Städten wie Frankfurt oder Wien finden dem Vernehmen nach nur unregelmässig Veranstaltungen statt.
Der bescheidene Beitrag den ich an dieser Stelle leisten kann ist das Weitergeben von Erfahrungen und best practices, schließlich bin ich recht intensiv in der Community in Köln/Bonn unterwegs und trage mit dem Scrumtisch Bonn auch zu ihr bei. Und vielleicht profitiere ich irgendwann auch selbst davon - wenn ich mal wieder ausserhalb des Rheinlandes unterwegs sein sollte wäre eine lokale Veranstaltung eine willkommene Alternative zur Hotelbar.
Montag, 10. Oktober 2016
Certified Scrum Professional
Edit: Dieser Artikel ist mittlerweile veraltet, die Zertifizierungs-Voraussetzungen haben sich geändert.
Seit letzter Woche bin ich dem (organisierten) agilen Olymp eine Stufe näher. Ich habe die Ruhephase zwischen zwei Aufträgen genutzt um mich bei der Scrum Alliance als Certified Scrum Professional (CSP) zertifizieren zu lassen, wodurch ich jetzt in der Verbandshierarchie eine Stufe oberhalb der Certified Scrum Master (CSM) oder Certified Scrum Product Owner (CSPO) stehe.
Überraschend finde ich, dass der CSP verhältnismässig einfach und billig zu bekommen ist. Man zahlt 250 $ und benötigt nur drei Jahre nachweisbare Berufserfahrung im Scrum-Umfeld sowie 70 so genannte "Education Units", die aber recht banal zu bekommen sind: ein paar Fachartikel, ab und zu bei einer User Group wie z.B. dem Bonner Scrumtisch vorbeischauen und das war es. Keine Prüfung, kein Lehrgang, keine Präsenzveranstaltung - im Grunde reicht es einfach seinen normalen Job zu machen und sich ab und zu in der Community sehen zu lassen. Angesichts dessen finde ich es erstaunlich wie wenige CSPs bisher vergeben wurden.
Im Zertifizierungs-Verzeichnis der Scrum Alliance findet man im Moment 384.800 CSMs, immerhin 84.200 CSPOs aber gerade einmal 4.600 CSPs. Lediglich ein Prozent (!) der zertifizierten Scrum Master und Product Owner nimmt die nächste Stufe, die anderen bleiben da wo sie sind. Das ist dürftig, vor allem wenn man bedenkt, dass viele große Unternehmen permanent nach irgendwelchen Zertifizierungen suchen mit denen sie ihre Weiterqualifizierungsquoten für ihre Belegschaft erfüllen können. Was könnte also der Grund für diese niedrige Zahl sein?
Eine gute Begründung hat mir ein in einem Konzern arbeitender Freund gegeben. "Klar, für Dich ist das einfach" meinte er, "aber Du machst ja auch was in dem Bereich. Für die Leute bei uns ist das viel schwerer, die sind ja nur zertifiziert." Hinter diesem "nur zertifiziert" dürfte tatsächlich ein wesentlicher Teil der Begründung liegen: bei einem sehr großen Teil der CSMs und CSPOs handelt es sich um ganz normale Team-, Abteilungs- und Bereichsleiter, die irgendwann mal aus irgendeinem Grund (siehe letzter Abschnitt) auf eine zweitägige Schulung geschickt wurden, danach aber einfach so weitergearbeitet haben wie bisher (das entspricht auch meinem Eindruck aus vielen Unternehmen). Denen dürfte bereits der Nachweis von drei Jahren Scrum-Erfahrung schwerfallen, und ohne die sind auch Fachartikel und Community-Engagement nur schwer vorstellbar.
Weiter gedacht würde das bedeuten, dass es sich bei der organisierten Scrum-Community um einen Scheinriesen handelt. Einer großen Gruppe Zertifikatsinhaber stehen nur wenige gegenüber die auch wirklich nach dieser Methode arbeiten. Schlecht für den State of Scrum, gut für mich als käuflicher Scrum Master und Scrum Coach. Vor allem da jetzt der CSP-Badge auf meinem CV meine Kompetenz noch strahlender zur Geltung bringt als ohnehin schon.
Mittwoch, 15. Juni 2016
Scrum Alliance gründet German Chapter
Es geschieht gerade etwas Interessantes hier in Deutschland - die Scrum Alliance gründet eine nationale Unterorganisation, das so genannte "German Chapter". Verkündet wurde es in dieser Woche per Email.So wie es aussieht nimmt Deutschland damit eine Vorreiterrolle ein, schließlich wird dieses Chapter der Mail zufolge das erste seiner Art sein. Der weitere Inhalt ist denkbar banal, er enthält neben der hier gezeigten Einleitung nur einen Link zu einer Umfrage zur bevorzugten Sprache (deutsch oder englisch). Gleichzeitig wird aber auch angekündigt, es wäre nur die erste Nachricht von vielen, so dass man gespannt sein kann wie es weitergeht.
Ich bin mir noch nicht ganz sicher was ich von einer nationalen Scrum-Organisation erwarten kann oder will, stehe dem ganzen aber erstmal offen gegenüber. Eine Chance und gleichzeitig auch ein Risiko sehe ich darin, dass versucht werden könnte die Deutungshoheit über den Namen Scrum zu gewinnen. Zum einen könnte das der steigenden Anzahl der unseriösen Berater entgegenwirken, die unter diesem Label auch noch den größten Blödsinn verkaufen (Michael Küsters vergleicht sie nicht ohne Grund mit Wundermittel verkaufenden fahrenden Quacksalbern). Zum anderen besteht aber das Risiko, dass angestrebt wird ein Monopol auf den Begriff zu erheben, was ja anscheinend in Amerika bereits versucht wurde.
Aber wie gesagt, zunächst einmal bin ich offen und neugierig. "Embrace Change" heißt es ja. In dem Sinne - lassen wir uns überraschen.
Montag, 4. Januar 2016
Essential Kanban Condensed Guide [updated]
Bild: Pixabay / Geralt - Lizenz |
Alles neu macht der Januar. Das gilt für diese Seite (Feedback zum neuen Design bitte über das Kontaktformular an mich), es gilt aber auch für die Welt der agilen Methoden, Frameworks und Regelwerke. Seit einigen Wochen kursiert eine Version 0.9 eines Kanban-Guide in der Community, dessen Veröffentlichung durch die Lean Kanban University unmittelbar bevorstehen soll [Update 28.07.16: ist mittlerweile offiziell veröffentlicht, hier ist der Link]. Zeit für einen näheren Blick.
Zunächst das Offensichtliche: Kanban ist nach Scrum der zweite grosse Ansatz der agilen Produkt- und Prozessentwicklung, hat aber nicht einmal in Ansätzen einen vergleichbaren Bekanntheitsgrad und kommerziellen Erfolg. Der Kanban Guide [Update: es hat sich tatsächlich der wunderliche Name "Essential Kanban Condensed Guide" durchgesetzt] ist anscheinend Teil der Bemühungen diesen Rückstand aufzuholen, genau wie die Lean Kanban University (als Entsprechung der Scrum Alliance) und deren Trainings- und Zertifizierungs-Programme.
Es liegt daher nahe den neuen Kanban Guide mit dem Scrum Guide zu vergleichen. Die als erste ins Auge springende Gemeinsamkeit ist dabei der Umfang: genau wie die Scrum-Begründer Ken Schwaber und Jeff Sutherland haben auch David J Anderson und Andy Carmichael ihr Werk kurz gehalten, die im Moment kursierende Version ist mit 25 Seiten angenehm überschaubar [Update: da ist zwischen Version 0.9 und Version 1.0 einiges passiert, es sind jetzt fast 50 Seiten, mit Anhängen fast 90 (!)].
Eine halbe Gemeinsamkeit gibt bei der Wertebasierung. Während die Scrum-Werte keinen offiziellen Status haben [Update 07.11.16: mittlerweile sind auch die Scrum-Werte offiziell] stehen die Kanban-Werte ganz am Anfang des Dokuments. Im Einzelnen sind es Transparency, Balance, Collaboration, Customer Focus, Flow, Leadership, Understanding, Agreement und Respect. Schön, dass sich in diesen Werten die Eigenheiten von Kanban wiederfinden: vor allem Flow und Balance passen hier sehr gut (und bilden einen sichtbaren Kontrast zu den Iterations-basierten Scrum-Werten Committment und Courage).
Ein klarer Unterschied zu Scrum ist die Aufführung von Praktiken, im Einzelnen Visualize, Limit Work in Progress, Manage Flow, Make Policies Explicit, Implement Feedback Loops und Improve Collaboratively, Evolve Experimentally. An dieser Stelle bewegt sich die hier beschriebene Variante von Kanban weg von einem offenen Framework (wie Scrum eines ist) und hin zu einer Prozessanleitung. Besonders bei der Praktik Implement Feedback Loops ist das auffällig, hier werden gleich sieben verschiedene Meetings definiert in denen Feedback stattfinden soll.
Ebenfalls eher in eine deskriptive Richtung gehend sind die Anleitung für die Kanban-Einführung in Unternehmen, der so genannte Systems Thinking Approach to Introducing Kanban (STATIK), und der Kanban Litmus Test genannte Maturity Check. Auch die Empfehlung der zwei nach Möglichkeit zu verwendenden Metriken Cumulative Flow Diagram und Run Chart (anscheinend eine Abwandlung eines Control Charts) ist relativ spezifisch.
Eine Gemeinsamkeit mit Scrum findet sich zuletzt wieder bei den Rollen, die erkennbar aus dem anderen Framework übernommen wurden. Der Scrum Master heisst hier Service Delivery Manager, Flow Manager, Delivery Manager oder Flow Master, der Product Owner heisst Service Request Manager, Product Manager, oder Service Manager (es sind jeweils mehrere Möglichkeiten angegeben). Einfache Teammitglieder werden nicht erwähnt, scheinen also keinen methodentypischen Namen zu haben.
Das Fazit: gemischt. Zwar ist Kanban mit diesem Dokument jetzt klarer definiert und beschrieben (zumindest für alle die der Lean Kanban University Deutungshoheit zugestehen) was Einführung und Umsetzung erleichtern kann. Auf der anderen Seite war es immer die Stärke von Kanban, dass es als "Open Source-Bewegung" sehr offen und frei in der Umsetzung war, das könnte hier verloren gehen. Positiv gesehen: immerhin scheint es den Willen zu geben den Umfang gering zu halten [Update: wie gesagt, Version 1.0 hat mit Anhängen fast 90 Seiten (!)]. Mal sehen wie es sich entwickelt.