Untertanenkultur
Zu den Demonstrationen von Rechtsradikalen und "besorgten Bürgern" die in den letzten Tagen in Chemnitz stattgefunden haben ist eigentlich
schon alles gesagt worden (und Politik soll auch nicht das Thema dieser Website werden). Es gibt aber einen Aspekt der gesondert herausgehoben werden kann, weil er auch über die Politik hinaus eine Bedeutung hat: die von einem Teil der Demonstranten geäussterte unspezifische Erwartung, "irgendjemand" müsste sofort "irgendetwas" tun um die Gesamtsituation zu verbessern (
ein Beispiel hier).
Hinter einer solchen Erwartung stehen mehrere verschiedene Grundeinstellungen. Zum einen die, dass derjenige der sich so äussert nicht selbst aktiv werden möchte.
"Jemand anders soll tätig werden, nicht ich." Paradoxerweise ist das verbunden mit einem Gefühl der Dringlichkeit.
"Es muss etwas passieren, und zwar jetzt." Zuletzt ein offenes Desinteresse an einer Beteiligung an der Lösungsfindung.
"Was gemacht wird interessiert mich nicht, solange dadurch alles besser wird."
Diese Grundeinstellungen sind vor allem in grossen Organisationen wie Behörden oder Konzernen immer wieder anzutreffen. Die Ursache dafür (die auch die Verbindung zu den in der DDR großgewordenen "besorgten Bürgern" bildet) ist die private und/oder berufliche Sozialisation in hierarchischen, von Befehl und Gehorsam geprägten sozialen Systemen. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer "Untertanenkultur", einem Begriff der eine nähere Betrachtung wert ist.
Geprägt wurde er von den beiden amerikanischen Politikwissenschaftlern Gabriel Almond und Sidney Verba in ihrem Werk
"The Civic Culture". Basierend auf tausenden von Interviews in mehreren von einer Untertanenkultur geprägten Ländern konnten sie aufzeigen, dass diese auf vier Annahmen beruht:
- Der einzelne Mensch ist unwissend und kann nichts bewirken
- Das Gesamtsystem ist allwissend und kann alles erreichen
- Der Einfluss des Einzelnen auf die Hierarchie ist winzig
- Der Einfluss der Hierarchie auf den Einzelnen ist gewaltig
Es ist erkennbar: wer ein Weltbild hat das auf diesen vier Annahmen beruht wird fast zwangsläufig die Erwartungshaltung entwickeln, dass "die da oben" von sich aus darauf kommen müssen, wie eine als problematisch wahrgenommene Situation verbessert werden kann. passiert das nicht wird es als Systemversagen wahrgenommen, was zu Frustration und Wut führen kann.
Um die Betroffenen aus dieser Wut und Frustration in ein konstruktives Miteinander zurückzuführen ist ein Kulturwandel nötig, der in diesem Modell durch eine Widerlegung der besagten Annahmen herbeigeführt werden kann. Den Menschen muss klar werden, dass sie Gestaltungsspielraum haben, dass ihre Ideen gehört werden und dass das Gesamtsystem auf diesen Input angewiesen ist um funktionieren zu können. Das sagt sich leicht, umzusetzen ist es schwer. Aber es lohnt sich.
Wenn dieser Wandel stattfindet kann aus der Untertanenkultur (und der Erwartung "irgendjemand anders" müsste "irgendwie" alle Probleme beseitigen) eine partizipierende Kultur werden, in der jeder von sich aus dazu beiträgt, dass permanent an Verbesserungen gearbeitet wird. Dadurch wird nicht nur das Gesamtsystem leistungsfähiger, es werden auch die ihm angehörenden Menschen zufriedener. Und "besorgte Bürger" spielen dann keine Rolle mehr.