Freitag, 3. Dezember 2021

Hanlon's Razor, Stein's Razor und die Prime Directive

Bild: Wikimedia Commons / Frank Schulenburg - CC BY-SA 3.0

Selbst wenn sich nicht mehr genau rekonstruieren lässt ob sich das Sprichwort "Hanlon's Razor" auf Robert J. Hanlon oder (versehentlich falsch geschrieben) auf Robert A. Heinlein zurückzuführen ist (siehe Wikipedia für mehr Details), es hat mittlerweile eine weite Verbreitung erreicht und wird immer wieder zitiert wenn Streit darüber entsteht warum etwas schiefgelaufen ist. Für alle die es nicht kennen sind hier sein Hintergrund, seine gute Seite, seine Problematik und eine bessere Alternative.


Zunächst zum Namen. Als "Razor" (Rasiermesser) kann im Englischen ein Vorgehensmodell des Erkenntnisgewinns bezeichnet werden, bei dem man überflüssige oder verwirrende Elemente von einer Überlegung "abrasiert". Das was danach übrigbleibt soll klarer und verständlicher sein als der Ausgangszustand. Der Bekannteste ist vermutlich Occam's Razor ("The simplest explanation is usually the best one."), der zweitbekannteste der nach Hanlon oder Heinlein benannte, um den es hier geht.


Never attribute to malice that which can be adequately explained by stupidity.

Hanlon's Razor


Ins Deutsche übersetzt: "Erkläre nicht mit Bosheit was sich auch mit Dummheit erklären liesse." Das klingt zunächst eher passiv-agressiv, hat aber bei näherer Betrachtung einen fast schon humanistischen Hintergrund - statt dem Verursacher eines Fehlers oder Schadens niedere Beweggründe zu unterstellen wird davon ausgegangen, dass er die Konsequenzen seines Handelns einfach nicht überblicken konnte und sie nur darum nicht unterlassen hat.


Das Schwierige an dieser Betrachtungsweise ist allerdings, dass der Betrachtete doch wieder herabgesetzt wird, nur auf eine andere Art. Er wird zwar nicht mehr als bösartig bezeichnet, dafür aber als geistig minderbemittelt, worin implizit mitschwingt, dass jeder durchschnittlich intelligente Mensch sich anders verhalten hätte. Das ist zum einen eine sehr anmassende Haltung, zum anderen hat es aber auch Folgen die den Folgen der Zuschreibung von Bösartigkeit sehr ähnlich sind.


Beide Erklärungsansätze führen dazu, dass im Nachgang eines Fehlers oder Schadens eher nach Schuldigen als nach Lösungen gesucht werden wird. Dass das geschieht ergibt sich zwingend daraus, dass in beiden Fällen das Problem in der geistigen Verfassung des Verursachers gesehen wird. Dieser Logik folgend muss man nur alle als böse oder dumm wahrgenommenen Menschen aus Entscheidungspositionen entfernen um zu verhindern, dass der Vorgang sich wiederholt.


Die Realität ist aber meistens vielschichtiger. In einer komplexen Umgebung liegen so viele verschiedene Faktoren vor (die sich dazu auch noch gegenseitig beeinflussen), dass es kaum möglich ist sie alle im Blick zu behalten. Und selbst dann wenn das noch irgendwie möglich wäre wird das in der Regel dadurch erschwert, dass zeitgleich andere, ähnlich komplexe Sachverhalte ebenfalls beobachtet werden müssten um sicherzugehen, dass nicht dort gerade etwas aus dem Ruder läuft.


Die Erkenntnis, dass derartige Zusammenhänge nicht vollständig beherrschbar sind hat in den agilen Frameworks dazu geführt, dass versucht wird die Aufarbeitung von Zwischenfällen möglichst ohne Schuldzuweisungen durchzuführen (man spricht hier von "Blame-free Retrospectives"). Bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang die sogenannte "Prime Directive", also die oberste Verhaltensregel die in derartigen Situationen zu beachten ist:


Regardless of what we discover, we must understand and truly believe that everyone did the best job they could, given what they knew at the time, their skills and abilities, the resources available, and the situation at hand.

the Prime Directive


Und damit kommen wir zum kreativen Teil. Abgeleitet von der obersten Verhaltensregel für agile Retrospektiven ist es möglich Hanlon's Razor so umzuformulieren, dass er nicht mehr dazu führt einen Schuldigen zu suchen sondern stattdessen die Unbeherrschbarkeit einer komplexen Welt anerkennt. Das soll jetzt passieren. Und da das Ergebnis einen neuen Namen braucht möchte ich für einen Moment unbescheiden sein und es nach mir benennen. Hier ist "Stein's Razor":


Erkläre nichts durch Bosheit oder Dummheit was auch durch fehlende Informationen oder gestörte Konzentration erklärbar ist.

Stein's Razor


Ob sich dieser Name durchsetzt und mich berühmt werden lässt wird sich zeigen, aber unabhängig von der Benennung lege ich diese Richtlinie allen ans Herz die an der Aufarbeitung von Fehlern oder Schadensfällen beteiligt sind. Sie zu befolgen führt in der Regel zu konstruktiveren Diskussionen, lösungsfokussierteren Verbesserungsprozessen und bereitwilligerer Beteiligung, also zu eigentlich allem was in solchen Situationen nötig und wünschenswert ist.


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