Montag, 18. März 2024

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte (XXXXI)

Grafik: Design Thinking! Comics

Den Vergleich von Produktentwicklungs-Vorhaben mit einer Acherbahnfaher kenne ich schon länger, aber noch nicht in dieser schönen Visualisierung.

Donnerstag, 14. März 2024

Confidence Meter

Grafik: Itimar Gilad - CC BY-SA 4.0

Würde man die Entwicklungsteams dieser Welt diejenigen Fragen nennen lassen, die am schwersten zu beantworten sind, würde eine mit ziemlicher Sicherheit weit oben landen: "Wie sicher seid Ihr, dass Euer Produkt am Markt erfolgreich sein wird?" Vor allem wenn etwas neu entwickelt wird (also in der IT eigentlich immer) ist eine wirklich sichere Antwort aufgrund fehlender Erfahrungswerte kaum möglich, gleichzeitig ist die Antwort "Kann man nicht sagen" natürlich auch unbefriedigend, schliesslich müssen Investitions- oder Abbruch-Entscheidungen ja irgendwann getroffen werden. Ein Dilemma.


Ein Weg um aus diesem Dilemma zu entkommen und zu realistischen Zuversichts-Werten zu kommen ist das Confidence Meter von Itimar Gilad. Mit seiner Hilfe lässt es sich die Bewertung aus verschiedenen Einfluss-Faktoren ableiten, und das nicht etwa nur auf Basis von Bauchgefühl, sondern auf der Grundlage überprüfbarer und in ihrer Gewichtung abgestufter Erkenntnisse, bzw. Ergebnisse. Dadurch ist dieser daraus summierte Wert nicht nur differenzierter, er ist auch weniger anfällig für unrealistisch optimistische Selbsttäuschungen und Manipulationen. Die (vereinfachten) Faktoren sind:


Individuelle Überzeugungen (Zuversichtswert 0,1)

Damit fängt alles an. Irgendjemand (Person oder Gruppe) hat die initiale Idee und glaubt daran, dass aus ihr etwas Grosses werden kann. Das ist wichtig und darf nicht geringgeschätzt werden, eine auch nur irgendwie geartete Erfolgswahrscheinlichkeit lässt sich aber kaum daraus ableiten.


Ein Pitch Deck (Zuversichtswert 0,1)

Sich selbst überzeugt zu haben ist ein erster Schritt, als nächstes gilt es andere zu überzeugen. Überlicherweise geschieht das mit einer Präsentation der (angenommenen) Potentiale und Vorteile. Die zu erstellen verhilft zu strukturierteren Annahmen, zu mehr aber noch nicht.


Aktuelle Trends, Moden und Buzzwords (Zuversichtswert 0,1)

Man kann hier einen beliebigen Hype einsetzen: Digital, Mobil, KI, was auch immer. Darauf aufzuspringen erscheint naheliegend und verlockend, eine auch nur irgendwie geartete Erfolgswahrscheinlichkeit lässt sich aber noch immer kaum daraus ableiten.


Unterstützende Meinungen (Zuversichtswert 0,5)

Ab hier wird es schon ein ganz kleines bisschen objektiver. Wenn auch andere Personen der Meinung sind, dass die Idee Potential haben könnte, ist das eine erste Bestätigung. Und wenn diese Personen auch noch über Budgets oder sonstige Ressourcen verfügen, um so besser.


Schätzungen und Planungen (Zuversichtswert 0,5)

Nehmen wir an, dass Budget da ist, jetzt kann überlegt werden, wie und wann es investiert wird. Das kann sehr dabei helfen, die Umsetzbarkeit zu beurteilen (ein durchaus wichtiger Punkt), ob das Produkt am Markt erfolgreich sein wird, ist aber noch immer sehr ungewiss.


Anekdotische Evidenz (Zuversichtswert 1)

An dieser Stelle gibt es zum ersten Mal eine kleine empirische Validierung. Irgendwo ist ein (angeblich) vergleichbares Vorhaben erfolgreich gewesen. Darin steckt im Zweifel noch viel Hören-Sagen, aber zumindest ist es zum ersten Mal etwas, das über Vermutungen und Hoffnungen hinausgeht.


Marktforschung (Zuversichtswert 3)

Mit Marktforschung wird Hören-Sagen durch eine erste, noch abstrakte, Bedarfsermittlung ersetzt. Ob die potentiellen Kunden und Nutzer aus diesem möglichen Bedarf eine konkrete Kaufentscheidung ableiten werden ist unklar, zumindest hat man sie jetzt aber erstmals überhaupt befragt.


Kunden-, bzw. Anwender-Wünsche (Zuversichtswert 3)

Ab hier wird es konkreter. Konfrontiert mit den ersten Entwürfen des zukünftigen Produkts können potentielle Kunden und Nutzer Wünsche, Erwartungen und Nutzungs-Absichten äussern. Noch keine Erfolgsgarantie, aber ein starker Indikator.


Ergebnisse von Kunden-, bzw. Anwender-Tests (Zuversichtswert 5)

Aus dem starken wird an dieser Stelle ein sehr starker Indikator. Test- und Focus-Gruppen bekommen Prototypen oder MVPs zur Verfügung gestellt und können Rückmeldung zur Benutzungs-Erfahrung und zum wahrgenommenen Mehrwert geben, ggf sogar schon zur Kauf-Absicht.


Echte Verkaufs- und Nutzungsdaten (Zuversichtswert 10)

In diesem letzten Stadium hat der Verkauf bereits begonnen und die ersten Zahlen zu Absatz und Nutzung wurden bereits ermittelt. Die Indikatoren werden jetzt nach und nach durch Beweise abgelöst, die Erfolgswahrscheinlichkeit ist klar abzusehen oder sogar bereits ermittelt.


Wie oben gesagt, diese Übersicht ist etwas vereinfacht, hinter den einzelnen Faktoren stecken nochmal Bandbreiten und Gewichtungen. Die Details dazu (inclusive einer Tabelle mit Berechnungsformeln) hat Itimar Gilad freundlicherweise auf seiner Website zur Verfügung gestellt. Wichtig ist aber, dass sich am Ende aus den Ausgangswerten der einzelnen Faktoren eine Gesamtsumme bildet, die einen realistischen, kaum verfälschbaren Zuversichtswert auf einer Skala zwischen 1 und 10 abbildet.


Was bei näherer Betrachtung dieses Modells auffällt ist, dass sich hohe Zuversichtswerte erst relativ spät, bzw. kurz vor dem Markteintritt ergeben können. Das ist für alle, die möglichst früh möglichst viel Sicherheit haben wollen, natürlich ärgerlich. Auf der anderen Seite ist es aber auch die harte Wahrheit - frühe Sicherheit gibt es bei neuen Produkten nicht. Wer nicht bereit ist das zu akzeptieren, dem werden auch Tools wie dieses hier nicht helfen.

Montag, 11. März 2024

Kollabierende methodische Modelle

Wenige Innovationen der letzten Jahrzehnte dürften so mit Hoffnungen und Erwartungen überladen sein wie die generative künstliche Intelligenz (in Form von Programmen wie Chat GTP, Gemini, o.Ä.). Um so ironischer dürfte es sein, dass wir durch sie etwas lernen können, was so niemand erwartet haben dürfte: wir können anhand der Evolution dieser Technologie erkennen, warum methodische Vorgehensweisen dem starken Risiko ausgesetzt sind, mit der Zeit unbrauchbar zu werden. Aber der Reihe nach.


Im Frühling 2023 veröffentlichten britische und kanadische Forscher die Studie The Curse of Recursion: Training on Generated Data Makes Models Forget. In ihr belegten sie folgendes Phänomen: wenn eine künstliche Intelligenz (KI) nur zu Beginn auf Basis bestehender Datensätze trainiert wird, dann aber ihre auf dieser Basis generierten Ergebnisse wiederum zu dem Trainingsmaterial hinzugefügt werden, dann wird die Qualität der Ergebnisse mit zunehmender Zeit immer schlechter.


Der Grund dafür ist Folgender: die Generierung erfolgt (stark vereinfacht) durch die Ermittlung der Durchschnittswerte aus bestimmten thematisch zusammengehörigen Teilen des Trainingsmaterials. Dadurch gehen Nuancen und Kontext verloren, Trends und verbreitete Missverständnisse entwickeln dagegen ein überproportionales Gewicht. Fliessen die so erzeugten Ergebnisse wieder in das Traininingsmaterial ein, entsteht eine immer stärker werdende Verfälschungs-Dynamik.


Das Ergebnis dieser Dynamik ist der irgendwann stattfindende Modell-Kollaps (Modell steht hier stellvertretend für die KI-Programme): die generative KI hat mit der Zeit so viel fehlerhaftes Material erstellt, dass das Trainingsmaterial in einem derartigen Ausmass davon kontaminiert ist, dass die ursprünglichen, unkontaminierten Bestandteile in Relation dazu in den Hintergrund treten. Und auf Grundlage dieser fehlerhaften Basis entstehen ab jetzt im Wesentlichen falsche Ergebnisse.


Jetzt zur Übertragung auf methodische Vorgehensweisen. Auch diese beruhen zu Beginn (sofern sie seriös sind) auf empirisch erhobenen Erfahrungswerten und sind so in der Realität verankert. Auf dieser Basis entehen aber auch hier Ergebnisse (Konferenzbeiträge, Fachpublikationen, etc.), die populäre Irrtümer, Durchschnitte und Moden verstärkt abbilden. Und wenn das wieder in die Weiterentwicklung der Methodik einfliesst, droht der Kollaps dieser (mentalen) Modelle auch an dieser Stelle.


Die Folge dieser kollabierenden methodische Modelle sind deren zunehmende Entkoppelungen von der Realität, oft in Form von immer trivialer und esoterischer werdenden Frameworks und Methoden. Transaktionale Führung, Selbstorganisation, Purpose oder ähnlich generische Konzepte werden undifferenziert und kontextbefreit zu Universallösungen erhoben, Management-Moden wie das "Spotify Model" oder OKRs werden mit unrealistischen Erfolgsversprechen verbunden, etc, etc.


Ein Weg, der aus dieser Situation herausführen kann, lässt sich übrigens erneut aus den Trainings der generativen KIs extrahieren. Diese führen nämlich dann wieder zu besseren Ergebnissen, wenn die selbsterzeugten Inhalte bewusst nicht in das Ausgangsmaterial weiterer Trainings aufgenommen werden (bzw. dort wo das bereits passiert ist wieder aus ihm entfernt werden), um so die sich selbst verstärkenden Verfälschungs-Kreisläufe gar nicht erst entstehen zu lassen.


Auf die Methodenwelt übertragen würde das bedeuten, Management-Moden, generische oder vereinfachte Ideen und stark kontextspezifische Fallstudien bewusst nicht in die Weiterentwicklung von Vorgehensmodellen einfliessen zu lassen und sich stattdessen auf empirische Validierung und wissenschaftliche Evidenz zu stützen. Inwiefern Organisationen wie das Project Management Institute oder Scaled Agile Inc. wohl dazu bereit wären, kann jeder für sich selbst zu bewerten versuchen.

Donnerstag, 7. März 2024

Reed Hastings on the Netflix Culture

Dass Netflix eine agile Vorzeigefirma mit einer ganz besonderen Unternehmenskultur ist, weiss man spätestens seit No Rules Rules, dem Buch seines CEO Reed Hastings. In diesem Interview in der Stanford Graduate School of Business erzählt er, wie sich sein Unternehmen und seine Kultur in den letzten Jahren weiterentwickelt haben und geht dabei auch auf einige Aspekte ein, die in seinem Buch noch nicht vorgekommen sind (z.B. den Einsatz künstlicher Intelligenz).



Für alle denen das noch nicht reicht, gibt es noch einen weiteren Einblick in die Netflix-Kultur, der aus einem etwas anderen Blickwinkel stattfindet. Kathryn Koehler hat in dieser Firma den bemerkenswerten Titel eines "Director of Productivity Engineering" und kann einiges zu ihrer Leistungskultur und deren Wandel in den letzten Jahren sagen. Zum Interview mit ihr geht es hier.

Montag, 4. März 2024

Conway's Coaching

Bild: Freerangestock / Rawpixel - License

Wenn sich Unternehmen einmal darauf eingelassen haben, ihren Mitarbeitern Coaches zur Seite zu stellen, kommt es immer wieder in der Folgezeit zu Ausdifferenzierungen dieser Rolle. In der Regel durch ein Präfix gekennzeichnet, entwickeln sich "Spezialisten-Coaches" für bestimmte Themengebiete, vom Quality Coach über den DevOps Coach bis zum Leadership Coach kann alles Mögliche dabei sein. Das ist auch erstmal ok, wie so oft kann man bei näherer Betrachtung aber Erstaunliches erkennen.


Viele der verschiedenen ausdifferenzierten Coach-Rollen werden weniger aufgrund von Nachfrage, Unternehmensstrategie oder sonstigen übergreifenden Notwendigkeiten und Zielen definiert, sondern aufgrund eines ganz anderen Kriteriums: der Organisationsstruktur. Sie werden innerhalb der vorhandenen Bereiche oder Abteilungen aufgebaut, deren Themengebiet dadurch auch zu ihrem Coaching-Gebiet wird. Zum Beispiel ist der Quality Coach in der Regel Teil einer Quality Assurance-Einheit.


Das ist zunächst einmal weder gut noch schlecht, und auch nicht ungewöhnlich. Die Tendenz, dass Organisationen ihre Organisationsstruktur auf alles mögliche übertragen ist so verbreitet, dass dieses Phänomen sogar als "Gesetzmässigkeit" formuliert wurde, Conways Law. Ihm zufolge ist diese Übertragung sogar zwangläufig und findet praktisch jedes mal statt, wenn neue Systeme (vor allem technischer, aber auch sozialer Art) erschaffen werden.


Was diese "Gesetzmässigkeit" problematisch macht, ist, dass eine anhand der Organisationsstruktur vorgemommene Aufteilung nicht immer den gegebenen Notwendigkeiten entspricht, und ihnen mitunter sogar zuwiederläuft. Statt zusammengehörende Aspekte gemeinsam zu betrachten und basierend darauf zu entscheiden, welcher von ihnen den grössten Handlungsbedarf (bzw. in diesem Fall Coaching-Bedarf) hat, verengt sich der (Coaching-)Fokus unverhältnismässig stark auf einen Teilbereich.


Wer solche Konstellationen erlebt hat, wird es vermutlich kennen: der Product Coach hilft den Product Ownern bei Roadmaps und Kunden-Interaktionen, lenkt die Aufmerksamkeit seiner Coachees aber selten auf technische Probleme. Der Agile Coach dringt auf regelmässige Auslieferung, selbst wenn der Release-Zyklus durch eine jährliche Leitmesse vorgegeben ist, der QA Coach fördert durch seine ausschliessliche Arbeit mit den Testern unbewusst deren Separierung von den Entwicklern, etc. etc.


Wird diese Entwicklung erkannt, ist es ein häufiger Reflex, alle Coaches in zentralen Einheiten, oft "Coach Pool" genannt, zusammenzuziehen, die z.B. in HR oder Change Management verortet sind. Das scheint zunächst sinnvoll, da Gesamtsicht und Gesamtzuständigkeit entstehen, kann aber auch wieder in Conway's Law enden, da die jetzt übergeordnete zentrale Einheit ebenfalls Partikularinteressen hat, die den übergreifenden Unternehmenszielen ggf. nicht entsprechen.1


Ebenfalls zu beachten ist, dass es auch sinnvolle Erwägungen gibt, die dazu führen, dass Conway's Law auch bei der Definition spezialisierter Coaching-Rollen stattfindet. In Fach- oder Spezialisten-Abteilungen verortete Coaches können bei ihrer Ausbildung und Weiterentwicklung von der hier vorhandenen Expertise profitieren, die in einer zentralen, organisationsübergreifenden Einheit naturgemäss nur schwach ausgeprägt sein kann.


Aus meiner Erfahrung ist ein anderer Weg besser: die "Spezialisten-Coaches" verbleiben zwar zum Zweck des Expertise-Aufbaus in ihren ursprünglichen Einheiten, sie bilden aber organisationsübergreifend eine Querschnittsorganisation, in der Einsatzplanung, Austausch, Abstimmung und das Setzen von gemeinsamen Standards stattfinden können, mit dem Ziel, dass trotz Spezialisierung eine Einheits-übergreifende Sicht auf die Gesamtorganisation und ihre Bedürfnisse und Notwendigkeiten möglich ist.


Wichtig dabei: wir sprechen immer noch von ausdifferenzierten Rollen, wie Quality Coach, DevOps Coach, etc. Bei Team Coaches mit fester Teambindung kann eine stärkere lokale Verankerung Sinn machen, das wäre aber nochmal ein eigenes Thema.


1Ein häufiges Phänomen ist z.B. der Versuch einer "Optimierung" der Einsatzplanung, wodurch Coaching-Quantität auf Kosten von Coachin-Qualität gewonnen wird.

Donnerstag, 29. Februar 2024

Kommentierte Links (CXI)

Grafik: Pixabay / Geralt - Lizenz
Das Internet ist voll von Menschen, die interessante, tiefgründige oder aus anderen Gründen lesenswerte Artikel schreiben. Viele dieser Texte landen bei mir, wo sie als „Food for Thought“ dazu beitragen, dass auch mir die Themen nicht ausgehen. Wie am Ende jedes Monats gibt es auch diesesmal wieder eine kommentierte Übersicht über die erwähnenswertesten.

Jenny Fernandez, Kathryn Landis, Julie Lee : Why Collaboration Is Critical in Uncertain Times

Obwohl es in diesem Artikel mehrerer Autoren des Harvard Business Review um das Thema der Zusammenarbeit geht, ist der Betrachtungswinkel weniger ein soziologischer oder systemtheoretischer und mehr ein psychologischer. Basierend auf mehreren wissenschaftlichen Studien beschreiben sie das Phänomen, dass Führungskräfte und Mitarbeiter in Krisensituationen dazu neigen, stärker miteinander zu konkurrieren, weniger Informationen zu teilen und mehr einsame Entscheidungen zu treffen. Da diese (auf unbewussten Mechanismen beruhenden) Muster aber zu tendenziell schlechteren Ergebnissen führen, ist es sinnvoll ihnen durch bewusst herbeigeführte, die Zusammenarbeit stärkende Massnahmen zu begegnen. Auch diese Massnahmen stellt der Artikel vor.

Prateek Singh: The Non-Issue of Team Size aka The Incomplete Understanding of Complete Graphs

Die Grafik mit der bei gleichmässig steigender Teamgrösse exponentiell steigenden Zahl an Kommunikations-Verbindungen (siehe hier) dürfte eine der am häufigsten gezeigten sein, wenn es darum geht zu begründen, warum agile Teams eher klein sein sollten. Prateek Singh stellt allerdings die Aussagekraft dieser Darstellung in Frage, da er die Idee eines (grossen) Teams in dem jeder mit jedem kommuniziert in der Realität für kaum vorfindbar hält. Für realistischer hält er die Herausbildung von Kommunikations-Knoten (Hubs), durch die der Kommunikationsaufwand sich deutlich reduzieren lässt. In einem solchen Setting stellt die Grafik nur noch die möglichen Kommunikations-Verbindungen her, nicht mehr die nötigen. Damit hat er natürlich recht, ein Team möglichst klein zu halten ist aber aus vielen Gründen trotzdem erstrebenswert, so lange es nicht auf Kosten der Crossfunktionalität geht.

Jason Knight: 5 Different Types of Debt That Can Hinder Your Product Organisation

Über Technische Schulden und Organisatorische Schulden habe ich bereits selbst etwas geschrieben (hier und hier), Jason Night fügt diesem Konzept noch drei weitere Dimensionen hinzu: die Produkt-Schulden, die Visions-Schulden und die Einnahmequellen-Schulden. Allen ist gemeinsam, dass es sich um ursprünglich aus guten Gründen (bzw. aus der Not heraus) getroffene Entscheidungen handelt, die aber in einer langfristigen Betrachtung Inkonsistenz, Ineffizienz oder Ineffektivität zur Folge haben, die mit z.T. grossem Aufwand korrigiert werden müssen (dieser Aufwand ist das "Zurückzahlen" der Schulden, daher die Analogie). Grundsätzlich gilt: diese verschiedenen Arten von Schulden sind nicht per se schlecht, sie müssen aber bewusst aufgenommen und planmässig abgebaut werden.

Tim Ottinger: Definition-by-Dysfunction

Wer Twitter und Linkedin nach Meinungen zu den agilen Frameworks (oder zur Agilität im Allgemeinen) durchsucht, wird einen bestimmten Typ erstaunlich häufig finden: kategorische und z.T. hochemotionale Ablehnungen, die aber auf Aspekten beruhen, die in keinem einzigen Framework enthalten sind (Sprints mit unrealistisch hoher Arbeitsmenge, Unterlassen von Planung und Dokumentation, alberne Spiele in Retrospektiven, etc.). Tim Ottinger gibt diesem Phänomen einen Namen: Definition by Dysfunction (sinngemäss übersetzt: eine Vorstellung die auf einem dysfunktionalen Kennenlern-Kontext beruht). Dafür, dass die Erkenntnis, einer Definition by Dysfunction aufgesessen zu sein, erhellend sein kann, ist er selbst ein gutes Beispiel - ursprünglich ein Gegner von Scrum, findet er den Ansatz mittlerweile (seit er ihn in Original kennt) gut.

Jason Zinoman: How Taylor Tomlinson Nailed Her Closing Joke

Auch ausserhalb der "agilen Blase" gibt es die Idee kontinuierlicher incrementeller Überprüfung und Verbesserung. Dieses Beispiel hier ist besonders anschaulich: Jason Zinomann, ein Journalist der New York Times, hat die Komikerin Taylor Tomlinson in den neun Monaten vor einem großen, für das Fernsehen aufgezeichneten Auftritt begleitet und dabei dokumentiert, wie einzelne Elemente ihres finalen Auftritts immer wieder in kleineren Auftritten erprobt, basierend auf dem Feedback des Publikums optimiert und danach erneut erprobt wurden. Ohne den Begriff zu nennen (und vermutlich ohne sich dessen bewusst zu sein) ist das die Anwendung agiler Praktiken bei der Entwicklung eines Bühnenprogramms.

Montag, 26. Februar 2024

Warum gerade viele Scrum Master und Agile Coaches ihren Job verlieren

Bild: Pexels / Antoni Shkraba - Lizenz

In vielen Unternehmen ist gerade ein scheinbar paradoxes Nebeneinander von zwei Phänomenen zu beobachten. Zum einen ist  mittlerweile allgemein anerkannt, dass Firmen agil (d.H. in kurzen Abständen Liefer- und Reaktionsfähig) sein müssen, um Umbrüchen wie Wirtschaftskrisen, Covid19 oder dem Aufstieg von KI-Anwendungen begegnen zu können. Zum anderen trennen sich gerade viele Firmen von ihren Scrum Mastern, Agile Coaches und sonstigen "agilen Methodikern". Wie passt das zusammen?


Spricht man mit Managern in diesen Unternehmen, ist die meistens von ihnen kommende Erklärung eine, die für besagte Methodiker nicht besonders angenehm ist: ja, Agilität ist wichtig und wird (wenn auch z.T. unter anderen Namen) weiter angestrebt. Dass trotzdem gleichzeitig Scrum Master- und Agile Coach-Stellen abgebaut werden liegt daran, dass aus Unternehmenssicht nicht erkennbar ist, dass diese in nennenswertem Ausmass zu diesem Ziel (agil zu werden oder zu bleiben) beitragen.


Diese Bewertung ist heftig und muss darum eingeordnet werden. Zum einen gibt es natürlich auch viele Firmen, in denen nicht so gedacht wird und in denen die agilen Methodiker weiterhin eine hohe Wertschätzung erfahren. Des Weiteren beruhen derartig negative Beurteilungen mitunter auf Unwissen oder hidden Agendas. Die schiere Menge der Fälle legt aber nahe, dass auch solche dabei sind, in denen diese negative Aussenwahrnehmung gerechtfertigt ist.1


Wenn wir unterstellen, dass diese Rollen grundsätzlich Sinn machen (ein Argument dafür findet sich hier), stellt sich jetzt die Frage, was in so vielen Firmen falsch läuft. Was sind die Gründe dafür, dass Scrum Master und Agile Coaches dort nicht dazu beitragen, die Produktentwicklung agiler zu machen? Die Gründe dürften vielfältig sein, nachdem ich in zahlreichen Unternehmen bestimmte Muster immer wieder erlebt habe, wage ich aber die Hypothese, dass die folgenden Ursachen eine zentrale Rolle spielen:


Fehlende Methoden-Expertise

Eine der irritierendsten Beobachtungen zu Beginn: viele Methodiker haben nur ein erstaunlich dünnes Methodenwissen. Häufig beschränkt es sich auf Scrum (und selbst das manchmal nur oberflächlich2), Kanban wird auf ein Task-Board mit WIP-Limits reduziert, von SAFe sind nur die inneren Mechaniken der Release Trains bekannt, etc. Das engt nicht nur den eigenen Werkzeugkasten ein, es führt auch zum Verlust des Status als Experte für Agilität und Organisationsentwicklung.


Fehlende technische Expertise

Um einem häufigen Einwand direkt zu begegnen - nein, ein Scrum Master oder Agile Coach muss keinen Code schreiben können. Er sollte aber zumindest auf einer abstrakten Ebene verstanden haben, was Continuous Integration, Feature Toggles, Code Coverage und Software Architektur mit Agilität zu tun haben. Ist das nicht der Fall, wird er viele Impediments und Wissenslücken in seiner Umgebung nicht erkennen und damit auch nicht beheben können.


Fehlende fachliche Expertise

Auch hier eine direkte Erwiderung auf einen häufigen Einwand - ja, das ist das Themengebiet des Product Owners. Aber: die Beratung des Product Owners gehört zu den expliziten Aufgaben des Scrum Masters. Und zumindest dort wo Elemente der Fachlichkeit mit dem agilen Vorgehen zu kollidieren drohen (z.B. im Fall von Vorgaben durch gesetzliche Regulierung) müssen diese bekannt und verstanden sein, um ein mit ihnen kompatibles und trotzdem agiles Vorgehensmodell entwickeln zu können.


Fehlende wirtschaftliche Expertise

Dass viele Scrum Master und Agile Coaches dieses Themengebiet nicht als ihres ansehen ist ein schwerwiegendes Missverständnis. Time to Market, Minimum Viable Products, Lead Times, Technische Schulden, (die Vermeidung von) Waste und viele andere Themen sind zutiefst betriebswirtschaftlich und gleichzeitig von zentraler Bedeutung für agile Produktentwicklung. Wer sie nicht kennt wird sich oft schwer damit tun, einem Stakeholder die Sinnhaftigkeit agilen Arbeitens zu erklären.


Fehlendes Systemverständnis

Gemeint ist hier das Gesamtsystem. Ausserhalb der eigentlichen Produktentwicklung gibt es verschiedene Prozesse und Einheiten, die starke Einflüsse auf den Grad der möglichen Agilität haben: von Budgeting und Compliance über HR und Betriebsrat bis hin zum Facility Management. Ähnlich wie im Fall der technischen Expertise ist es ohne Systemverständnis an vielen Stellen nicht möglich, Impediments zu erkennen (und damit auch nicht, sie zu lösen).


Um es noch ein weiteres mal zu wiederholen: es gibt viele Firmen in denen sich andere Konstellationen finden lassen, die gerade genannten Qualifikationslücken sind also keineswegs typisch für die agilen Methoden-Berufe. Es gibt aber eine signifikante Menge in dieser Gruppe, die diese Aspekte (bewusst oder unbewusst) wenig beachtet hat, um sich stattdessen mit Themen wie Coaching, Achtsamkeit und kreativer Meeting-Moderation zu beschäftigen. Nicht dass die keine Berechtigung hätten, aus einer unternehmerischen Sicht sind sie aber deutlich weniger wichtig als die zuvor genannten.


Was man für ein vollständiges Bild aber auch sagen muss: aus einer unternehmerischen Sicht ist es ebenfalls sinnvoll und notwendig, die oben genannten Themengebiete in die Ausbildung und Weiterentwicklung der eigenen Scrum Master und Agile Coaches zu integrieren. Dort wo das geschehen ist, dürften diese Jobs wertstiftend (und damit sicher) sein. Dort wo es nicht geschehen ist sollte man sich fragen, ob die aktuellen Entlassungen nicht auch ein Zeugnis einer verfehlten Personalpolitik sind.



1Alleine im Grossraum Köln/Bonn weiss ich von einer dreistelligen Zahl an Scrum Master-, Agile Coach- und Release Train Engineer-Stellen, die gestrichen oder zu Teilzeit-Tätigkeiten reduziert wurden
2Klassische Missverständnisse sind das Weglassen zentraler Elemente, wie z.B. den Sprint Zielen, bei gleichzeitigem dogmatischem Beharren auf optionalen Elementen wie den Story Points oder der Definition of Ready

Donnerstag, 22. Februar 2024

Scaled Agile: Hubs

Wir alle kennen den für agile Teams anzustrebenden Idealzustand: crossfunktional, d.h. in der Lage, alle notwendigen Tätigkeiten selbst auszuüben, und selbstorganisiert, d.h. in der Lage, selbst darüber entscheiden zu können, welche dieser Tätigkeiten wann durchgeführt wird. In der Realität gibt es aber immer wieder Sachzwänge wirtschaftlicher oder regulatorischer Art, die diesen Idealzustand einschränken. Das macht Kommunikation und Koordination mit anderen Teams nötig.


Je nachdem wie (un)hierarchisch eine Organisation aufgestellt ist, kann die Gestaltung dieser Kommunikationsströme unterschiedliche Formen annehmen. Der klassische Weg ist dabei der durch das Management. Ein Team-, Abteilungs- oder Projektleiter sammelt die zu besprechenden Themen in seiner Einheit ein, trifft sich mit seinem Gegenpart aus der anderen Einheit, der dort vorher das Gleiche gemacht hat, bespricht alles mit ihm und bringt die Ergebnisse zurück zu seinen Leuten.


Eine solche Lösung ist zwar naheliegend, allerdings aus verschiedenen Gründen problematisch. Entscheidungskompetenz und Umsetzungsexpertise werden entkoppelt, diese Art der Informationsübermittlung dauert relativ lange, durch die verschiedenen Kommunikations-Stationen entsteht das Risiko von Stille Post-Effekten und es kann sich (ggf. unbeabsichtigt) beim Management Herrschaftswissen herausbilden.


Der häufig propagierte "agile Gegenentwurf" ist die Netzwerk-Organisation. Hierarchien kann es zwar auch hier noch geben, die Kommunikationsströme richten sich aber nicht mehr an ihnen aus. Stattdessen kann jeder Einzelne mit jedem Anderen (sowohl Personen als auch Gruppen) Kontakt aufnehmen und anstehende Themen besprechen und Klären. Gegebenenfalls können dabei auch direkte Kommunikationen zwischen unterschiedlichen Hierarchie-Ebenen zustande kommen.


Auch diese Lösung ist aber nicht unproblematisch. Es besteht das Risiko, dass die Kommunikation zerfasert und unübersichtlich wird, mit der Folge, dass entweder Redundanzen entstehen (die im schlimmsten Fall zu verschiedenen, ggf. inkompatiblen Lösungen für das selbe Problem führen), oder dass ein unverhältnismässig hoher Aufwand investiert werden muss, um für jeden nachvollziebar zu machen, wer gerade mit wem über welches Thema spricht.


Ein Versuch, einen Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen zu finden, kommt von James Coplien, einem der unbekannteren Pioniere der agilen Software-Entwicklung (unter anderem hat er das Daily Scrum/Daily Standup erfunden). In seinem Ansatz der Scale Free Organisation ergänzt er die Netzwerk-Organisation um Personen, die Informationsknotenpunkte, die so genannten Hubs, bilden, welche die zu kommunizierenden Informationen konsolidieren, bzw. verteilen.


Der Unterschied zu dem Management-zentrierten Ansatz ist, dass es sich bei diesen die Informationen konsolidierenden, bzw. verteilenden Personen nicht um Manager oder sonstige Funktionsträger handelt, sondern lediglich um Menschen, die aufgrund ihrer Kommunikativität, ihrer Versetzungshistorie, ihrer Bereitschaft Wissen zu teilen oder sonstiger Faktoren (z.B. der Mitgliedschaft im Betriebssportverein) überdurchschnittlich viele andere Menschen kennen und bei Bedarf Kontakt zu ihnen herstellen können.


Ebenfalls im Unterschied zum Management-zentrierten Ansatz erfolgt die Herausbildung von Hubs selbstorganisiert, emergent und ggf. temporär. Mit anderen Worten: da kommunikative und/oder gut vernetzte Personen mit höherer Wahrscheinlichkeit angesprochen werden oder an Abstimmungs-Meetings (z.B. einem Scrum of Scrums) teilnehmen werden als andere, verstärkt sich ihr Hub-Status selbst. Fallen Hubs aus (z.B. durch Versetzung) entsteht durch die gleichen Mechanismen ein Ersatz.


Bedingt durch diese Selbstorganisations- und Kompensationsmechanismen (die Coplien in 200 von ihm untersuchten Unternehmen identifizieren konnte) sind Organisationen, deren Kommunikation über derartige Hubs läuft, mit einer hohen Effektivität, Flexibilität und Resilienz ausgestattet, da in ihnen direkte Verbindungen immer da entstehen wo sie gerade gebraucht werden, ohne dass sie sich durch Regulierung oder Normierung verfestigen.


Ein interessanter Aspekt, auf den Coplien aber nicht eingeht, ist die Frage, ob sich in formal Management-zentrierten Organisationen informelle Strukturen in Form von Hubs herausbilden können. Die Erfahrung spricht dafür, ob es wirklich in nennenswertem Ausmass der Fall ist, wäre aber ein interessantes Forschungsfeld für die Organisationssoziologie.