Wie man nichts lernt
Eigentlich sind Learning & Development-Angebote grossartig: Firmen wollen die Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeiter fördern und stellen ihnen darum kontinuierlich neue Lerninhalte zur Verfügung. Gerade in grösseren Organisationen kippt dieser eigentlich gute Ansatz aber immer wieder ins Dysfunktionale. Ein aktueller Fall, den man den Medien entnehmen kann, ist der von Slack, bzw. Salesforce. Das Drama, das hier wohl stattgefunden hat, ist leider exemplarisch für vieles was häufig schiefläuft, und verdient daher eine nähere Betrachtung.
Ausgangspunkt ist anscheinend die Digitalisierung und Automatisierung von Lern-Angeboten, die Salesforce irgendwann durchgeführt hat, vermutlich um die Einheitlichkeit der vermittelten Inhalte sicherzustellen, um sich von der Verfügbarkeit von Trainern und Schulungsleitern unabhängig zu machen, um Reiseaufwände zu den Schulungszentren zu sparen und um durch die beliebig häufige Wiederholbarkeit des einmal erstellten Materials Kosten einzusparen. So weit, so gut.
Ebenfalls betriebswirtschaftlich getrieben dürfte eine zweite Entscheidung gewesen sein: als interne Lernplattform wurde Trailhead gewählt, ein bereits vorhandenes Tool, das eigentlich dafür gedacht ist, Anwendern beizubringen, wie die Salesforce-Anwendungen funktionieren. Ein wesentliches Element dieses Tools sind Gamification-Elemente, das heisst, Lern-Punkte, die man für das Bewerten von Kursen und das Abschliessen von Wissenstests sammeln kann. Ebenfalls erstmal ok.
Eher humanistisch motiviert war vermutlich die dritte Entscheidung: Im Sinn eines Studium Generale wurden auch Inhalte in die "Lehrpläne" einbezogen, die keinen unmittelbaren Bezug zur täglichen Arbeit haben, etwa Eräuterungen der "vierten Industriellen Revolution" (Industrie 4.0) oder zur gesunden Ernährung. Auch daran kann man für sich genommen nur Gutes finden, ein Blick über den Tellerrand schadet nie und beugt dem Entstehen von Fach-Idiotie vor.
Was anscheinend nicht bedacht wurde, war der durch diese Art der Wissensvermittlung entstehende Zeitaufwand. Die verschiedenen Inhalte erreichten in Summe einen bemerkenswerten Umfang, und durch die Gamification-Elemente liessen sie sich nicht mehr im Hintergrund abspielen, sondern erforderten ständige Interaktion. Um die vorgegebenen Lernziele zu erreichen musste daher Zeit im Umfang von mindestens 40 Stunden investiert werden.
Man kann jetzt versuchen, sich in die Mitarbeiter der Salesforce-Tochtergesellschaft Slack hineinzuversetzen. In ihrem Learning & Development-Portal fanden sie Inhalte, die zum Teil generisch und zum Teil beruflich irrelevant waren, nur mit hohem Zeitaufwand konsumierbar waren, in einem Tool angeboten wurden, das eigentlich erkennbar einem anderen Zweck dienen sollte, ohne die Möglichkeit Verständnis- oder Vertiefungsfragen zu stellen. Kaum einer nahm diese Lern-Angebote an.
Peinlich wurde das aus Sicht des Unternehmens dadurch, dass es für jeden offensichtlich war. Die Gamification Elemente sorgten nicht nur dafür, dass die einzelnen Mitarbeiter Lern-Punkte sammeln konnten, dadurch dass die Ranglisten intern öffentlich waren, wurde klar, dass kaum jemand Punkte sammelte, was im Umkehrschluss bedeutete, dass kaum jemand die Learning & Development-Angebote wahrnahm. Ein offensichtliches und verheerendes Feedback.
Ebenfalls verheerend war die Reaktion des Unternehmens: das Lernen wurde erzwungen, indem angeordnet wurde, dass alle anderen Tätigkeiten eingestellt werden mussten, bis vorgegebene Mindest-Punktzahlen im Lern-Tool erreicht waren. Und das am Ende des Jahres, mitten in der Phase, in der viele damit voll ausgelastet gewesen sein dürften, an der Erreichung ihrer (gehaltsrelevanten) Jahresziele zu arbeiten. Die Nicht-Begeisterung angesichts dieses "Lern-Zwangs" kann man sich vorstellen.
Aber wo Frustration entsteht, da wird nach Auswegen gesucht. Und da Software-Entwickler das Lösen technischer Probleme als Beruf haben, kam es bald zur absehbaren Pointe der Geschichte: die Mitarbeiter programmierten sich ihre eigenen Tools, die automatisiert die Gamification-Elemente in Trailhead durchklickten. So konnten die geforderten Lern-Punkte erzeugt werden, ohne dass man sich mit den aufgezwungenen Themen beschäftigen musste. Formalismus erfüllt, Lerneffekt gleich null.
Man kann sich jetzt überlegen, an welcher Stelle der eigentlich gute Learning & Development-Ansatz entgleist ist. Vielleicht bei der Idee, generische Inhalte für alle Mitarbeiter festzulegen, vielleicht beim Versuch, durch die Wiederverwendung eines für einen anderen Zweck konzipierten Tools Geld zu sparen, vielleicht bei der Erstellung einer Punkte-basierten "Lern-Planwirtschaft", vielleicht beim Versuch, den Erfolg des Vorgehens zu erzwingen. Vermutlich war es eine Kombination von allem.
Selbst wenn dieser Fall vermutlich ein extremer ist, die verschiedenen Entgleisungs-Ursachen finden sich in unterschiedlicher Ausprägung in sehr vielen grossen Organisationen wieder, was auch erklärt, dass die internen Lernangebote einen nicht besonders guten Ruf haben. Und ich kann es aus eigener Erfahrung sagen: selbstgebaute Tools, mit denen Entwickler lästige Pflichtkurse "wegautomatisieren", gibt es nicht nur bei Salesforce, sondern auch in anderen Firmen.
Wie immer bleibt zum Schluss die Frage, wie es besser ginge. Die verblüffend einfache Antwort: man kann die Mitarbeiter fragen, wie ihnen Lern-Angebot und Lern-Tools gefallen und beides basierend auf diesem Feedback so anpassen, dass es den Bedürfnissen entspricht. Das ist nicht immer die billigste Lösung, aber dafür eine, die wirklich für Learning & Development sorgt. Und ganz nebenbei ist es auch ein schöner Test dafür,
wie ernst die propagierte Nutzer-Zentrierung wirklich gemeint ist.