Posts mit dem Label Kultur werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Kultur werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Dienstag, 18. März 2025

Warum deutsche Unternehmen keine Silicon Valley-Startups kaufen sollten

Bild: Pexels / Yan Krukau - Lizenz

Das Silicon Valley - Speerspitze des Fortschritts, Verkörperung technischer Disruptionen, Geburtsstätte bahnbrechender Innovationen und immerwährender Kreativität. Sich durch die Übernahme eines dort angesiedelten Startups in diese Wunderwelt einzukaufen erscheint den Managern vieler deutscher Konzerne und Mittelständler eine gute Idee zu sein, in der Realität enden diese Zukäufe allerdings meistens in Enttäuschungen. Und dass es immer wieder so kommt ist kein Zufall.


Um es vorwegzunehmen: was jetzt folgt ist anekdotische Evidenz. Ich habe einige dieser gescheiterten Silicon Valley-Expansionen selbst miterlebt, bei einigen weiteren kenne ich Menschen die dabei waren. In Summe lediglich eine niedrige zweistellige Zahl von Fällen, also Nichts was wissenschaftliche oder statistische Validität hätte. Da aber bestimmte Probleme immer wieder aufgetreten sind, glaube ich, dass es hier erkennbare (und prognostizierbare) Muster gibt.


Um mit dem Folgenschwersten (und auf den ersten Blick unglaublichsten) zu beginnen - die meisten deutschen Unternehmen sind sehr schlecht im Gestalten und Befolgen von Prozessen. Das kann bedeuten, dass es selbst für zentrale Geschäftsvorgänge keine klare Definition gibt (v.a. im Mittelstand anzutreffen), oder dass in Konzernen alles so überreguliert ist, dass die Mitarbeiter gezwungen sind, sich auf informelle Prozesse zurückzuziehen, um überhaupt arbeitsfähig zu sein (→ brauchbare Illegalität).1


In beiden Fällen ist das Ergebnis, dass neue Mitarbeiter die inoffiziellen, aber für das Funktionieren der Firma elementaren Prozesse erst nach und nach herausfinden müssen, da diese lediglich im kollektiven Gedächtnis festgehalten sind. In Folge dessen dauert es entsprechend lange bis sie wirklich arbeitsfähig sind - sechs bis zwölf Monate sind in grossen Unternehmen nicht ungewöhnlich. Da in Deutschland viele Angestellte jahrzehntelang in ihrer Firma bleiben, ist das aber ein eher geringes Problem.


Im Silicon Valley findet man gleichzeitig ein Muster, das mit dem zuvor genannten komplett inkompatibel ist - die meisten Angestellten bleiben weniger als zwei Jahre bei einem Arbeitgeber, viele wechseln sogar mehrmals im Jahr. Das langsame Aufbauen von Wissen über die inoffiziellen Prozesse ist daher nicht möglich, weshalb die offiziellen möglichst minimalistisch gehalten, dafür aber strikt durchgesetzt und neuen Mitarbeitern durch starke und umsetzungsnah agierende Manager vermittelt werden.


Übernimmt jetzt ein deutsches Unternehmen ein Silicon Valley-Startup, kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Culture Clash: in der (unbewussten) Erwartung, dass sich die Mitarbeiter die (inoffiziellen) Prozesse mit der Zeit selbst aneignen werden, wird von den deutschen Managern ein weniger strikter Führungsstil eingeführt. Der ständig wechselnden Belegschaft fehlen damit sowohl die schnelle Einweisung in die offiziellen, als auch das langsame Erlernen der inoffiziellen Prozesse.


Die unvermeidbare Folge eines derartigen Zusammenpralls so unterschiedlicher und inkompatibler Unternehmenskulturen ist ein erstaunlich schnelles Zusammenbrechen von Abläufen und Strukturen. Innerhalb von ein bis zwei Jahren sind kaum noch Kollegen da, die Erfahrung damit haben, die Prozesse am Laufen zu halten, stattdessen sind die meisten erst seit einigen Monaten an Bord, wurden nie richtig eingearbeitet und sind dadurch nur eingeschränkt zu effektivem Arbeiten in der Lage.


Diesem rapiden Verfall des intellektuellen Kapitals folgt meistens ein genauso schneller Einbruch der Produktqualität. Marktforschung, Product Discovery, technische Exzellenz und Qualitätssicherungs-Routinen sind mit den sich auflösenden Strukturen und Prozessen nur noch eingeschränkt durchführbar, Bugs und technische Schulden häufen sich an, die Umsetzungsgeschwindigkeit sinkt und mit ihr die Wettbewerbsfähigkeit und die Marktanteile. Irgendwann kann man alles nur noch abwickeln.


Selbst wenn diese Abläufe immer wieder zu beobachten sind, sind sie natürlich kein Naturgesetz. Sind die zugrundeliegenden Muster einmal erkannt, kann man gegensteuern und eine Silicon Valley-Tochtergesellschaft auch von Deutschland aus gut führen. Voraussetzung dafür ist allerdings, sich die Unzulänglichkeit oder Lückenhaftigkeit der meisten offiziellen Prozesse einzugestehen und ihre Unbrauchbarkeit in einer Umgebung mit hoher Personalfluktuation zu erkennen. Eine hohe Hürde.



1Natürlich ist in der Regel ein Grossteil der Prozesse gut beschrieben und wird auch befolgt, bei einem signifikanter Teil ist es aber umgekehrt.

Montag, 3. Februar 2025

Larman's Law (V)

Bild: Pexels / Tara Winstead - Lizenz

Mit der Zeit haben sich viele Menschen Gedanken über die ungeschriebenen Gesetze der Organisationsentwicklung gemacht und versucht sie (auf manchmal seriöse, manchmal aber auch eher zynische Art) auf Papier zu bringen. Besonders produktiv war dabei Craig Larman, der Erfinder von LeSS, der insgesamt fünf Gesetze verfasst hat, die er Larman's Laws of Organizational Behavior genannt hat. Heute soll es hier um das Fünfte von ihnen gehen. Es lautet:


In large established orgs culture follows structure. And in tiny young orgs, structure follows culture.


Zum Hintergrund: Larman verfasste dieses Gesetz als Reaktion auf die in der agilen Community verbreitete Ansicht, dass Veränderungsvorhaben grundsätzlich  damit beginnen müssten, die Kultur zu verändern. Da diese bestimmend für alles weitere wäre, würden alle weiteren Veränderungen mehr oder weniger von selbst folgen. Diese Ansicht hält er (zumindest in grösseren Organisationen) für nicht zutreffend und realitätsfern.


Die von Larman (und vielen Anderen) beobachtete Realität ist eine andere. In ihr ist die Unternehmenskultur (also die Summe aller informellen Erwartungen, Glaubenssätze, Deutungsmuster, etc.) stark von der Formalstruktur beeinfusst, bzw. eine Reaktion auf sie (zur Formalstruktur gehören Regel, Hierarchien, Anweisungen, o.A.). Ein einfaches Beispiel: in einem Unternehmen in dem alles zentral und geheim entschieden wird, wird es kaum zu einer partizipativen Mitmach-Kultur kommen.


In einem derartigen Umfeld haben Veränderungsvorhaben daher eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit, wenn sie mit strukturellen Veränderungen beginnen, z.B. mit der Delegation von Entscheidungen auf untere Hierarchieebenen, wodurch eine passive Gehorsams-Kultur dort nicht mehr möglich ist. Ob die dadurch herbeigeführten Kulturveränderungen die erhofften sind oder ob und wie nachgesteuert werden muss, ist dann nochmal ein separates Thema, das weit in das Change Management hineinführt.


Nun zum umgekehrten Fall: es gibt einige Firmen in denen es doch so ist, dass die Unternehmenskultur die Unternehmensstruktur definiert. Wie kann das sein? Larman gibt die Antwort, indem er darauf verweist, dass das vor allem in kleinen und jungen Organisationen gegeben ist. In derartigen Umgebungen sind Strukturen meistens nur rudimentär vorhanden (da noch nicht nötig) und verfestigen sich erst mit der Zeit. Diese Verfestigung bildet dann in der Regel die Kultur ab.


Diese Unterscheidung lohnt es, im Hinterkopf behalten zu werden: in grossen und alten Unternehmen überschreibt die Struktur die Kultur, in kleinen und jungen Unternehmen überschreibt die Kultur die Struktur. Wie immer mit Abstufungen und Ausnahmen, aber eine brauchbare Fausregel, auf die man den Beginn eines Veränderungsvorhaben aufsetzten kann. Und umgekehrt gibt sie einem eine klare Idee mit, wie man es besser nicht versuchen sollte.

Montag, 4. November 2024

Unternehmens-Multikultur

Noch einmal zum Thema Unternehmenskultur. Wie bereits an anderer Stelle geschrieben hat jedes auch nur halbwegs grosse Unternehmen nicht nur eine Kultur, sondern mehrere, die parallel zu einander existieren: eine in der Fertigung, eine im Vertrieb, eine in der Finanzabteilung, eine in der Software-Entwicklung, etc. Das gilt übrigens auch dort, wo offiziell etwas anderes behauptet wird, wo die "offiziell verkündete Kultur" total positiv erscheint oder wo sie von allen gewollt wird.


Das wirft aber weitere Fragen auf: sind diese verschiedenen Kulturen überhaupt miteinander kompatibel? Wiedersprechen sie nicht ggf. sogar in ihren Grundannahmen und Werten? Ist es auf dieser Basis überhaupt möglich, eine gemeinsame (Firmen-)Identität zu schaffen und sich auf gemeinsame Ziele zu einigen? Oder muss man nicht befürchten, dass die verschiedenen kulturellen Gruppen eher gegeneinander als miteinander arbeiten? Alles berechtigte Punkte.


Die gute Nachricht an dieser Stelle ist, dass es bereits seit langem eine umfangreiche wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema gibt, nämlich in der Soziologie, genauer gesagt in der Kultursoziologie. Zwar beschäftigt die sich eher mit Gesellschaften als Unternehmen, die Ergebnisse sind aber übertragbar. Bekannte Forscher sind hier Milton M. Gordon, John Rex oder Alf Mintzel (der in seinem Buch Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika eine gute Übersicht über das Thema gibt).


Das (vereinfachte) Ergebnis dieser Forschungen ist, dass Menschen in der Lage sind, in multikulturellen Umgebungen ihre Kultur temporär zu wechseln. In der Gesellschaft könnte dieser Wechsel z.B. zwischen Familie und Beruf stattfinden, in einem Unternehmen z.B. zwischen Projekt und Linie. In beiden Umfeldern werden dabei jeweils (bewusst oder unbewusst) die Verhaltensmuster an den Tag gelegt, von denen angenommen wird, dass sie in der jeweiligen Situation Kultur-konform sind.


Natürlich sind mit dieser Art von Multikultur Risiken verbunden. Zum einen kann es beim Aufeinandertreffen der jeweiligen kulturellen Gruppen für den, der zwischen ihnen wechselt, zu Rollenkonflikten kommen (zu wem verhält man sich jetzt kompatibel?), zum anderen sind während der temporären Zugehörigkeit zur einen Gruppe die Anliegen der anderen Gruppe nicht mehr so einfach zu erklären, ohne aus der Rolle zu fallen (die Folge ist der so genannte Kontext-Kollaps).


Um derartige Missverständnisse und daraus folgende potentielle Konflikte zu entschärfen, neigen multikulturelle Gesellschften (bzw. Unternehmen) dazu, selbstorganisiert jeweils zwei Varianten jeder einzelnen ihrer Teil-Kulturen herauszubilden: die primäre, die nur innerhalb der jeweils gleichartig ausgeprägten Gruppen ausgelebt wird, und die sekundäre, die dort ausgelebt wird, wo sich der Wirkungs- und Wahrnehmungsraum verschiedener kultureller Gruppen überschneiden.


Dabei kann es dazu kommen, dass die von den verschiedenen Einzelgruppen herausgebildeten Sekundär-Kulturen sich so ähnlich sind, dass sie sie kaum noch unterscheiden lassen. In einer Betrachtung von aussen kann dadurch der Eindruck entstehen, dass es doch eine gemeinsame, einheitliche Unternehmenskultur gäbe. Da diese Annahmen die parallel existierenden Primär-Kulturen nicht beachten, halten sie einer näheren Betrachtung aber kaum stand.


PS:

Die hier genannte Unternehmens-Multikultur ist übrigens nicht zu verwechseln mit dem in grossen Unternehmen häufigen Zusammenarbeiten verschiedener Nationalitäten oder Ethnien. Es gibt zwar Überschneidungen, aber trotzdem ist es nochmal ein eigenes Thema, zu dem es eine eigene wissenschaftliche Forschung gibt.

Montag, 23. September 2024

Wie ein einziger Manager eine Firmenkultur herunterwirtschaften kann

Bild: Pixabay / The Digital Artist - Lizenz

Eine der grossen Gemeinheiten beim Thema Firmenkultur ist es, dass man sie nur sehr schwer und langsam zum Besseren verändern kann, aber erstaunlich schnell zum Schlechteren. Und während eine Verbesserung immer nur durch eine Gemeinschaftsleistung erreichbar ist, kann eine Verschlechterung sogar von nur einem einzigen Manager herbeigeführt werden, wenn er denn nur weit genug oben in der Hierarchie seine Position hat. Das klingt unglaublich, ist aber immer wieder zu beobachten.


Nehmen wir den Fall von Peter, den ich selbst miterleben durfte (und der in Wirklichkeit natürlich anders heisst). Peter war relativ neu in einer Führungsposition in einem Konzern, der bis dahin eine vergleichsweise gute Unternehmenskultur gehabt hatte. Auf die traf jetzt Peter, der zuvor in einer anderen Landesgesellschaft gearbeitet hatte, und sich dort einen besonderen Glaubenssatz angeeignet hatte: der Chef muss möglichst allen wichtigen Entscheidungen selber treffen, sonst sind sie nicht gut.


Am Anfang hatten alle gedacht, dass das alleine daran scheitern würde, dass Peter gar nicht die Zeit finden würde, um sich um alle Themen zu kümmern. Aber er war anderer Meinung und glaubte, mit einem strikten Zeitmanagement wäre das kein Problem. Er teilte seinen Tag in eine ununterbrochene Reihe von dreissig- oder sechzigminütigen Calls und Meetings ein, von Acht Uhr morgens bis Neun Uhr Abends. In denen hörte er sich jeweils die Sachstände an, traf Entscheidungen und setzte Deadlines.1


Mit diesem strikten Zeitmanagement war allerdings ein Risiko verbunden - wenn es einmal nicht zu einer Entscheidung kam, wurden Folgetermine nötig, die aber in den vollen Kalender nicht mehr hineinpassten. Um es nicht dazu kommen zu lassen, versuchte Peter in möglichst jedem Termin eine Entscheidung zu erzwingen. Und sobald die einmal stand, durfte das Thema nicht nochmal aufgebracht werden. "Warum reden wir darüber?" fragte er dann, "Ich habe doch schon entschieden, nächsten Thema."


Für die anderen Angestellten waren diese Verhaltensweisen ein Problem. Nicht nur mussten sie die Erklärung ihrer z.T. hochkomplexen Themen so zusammenkürzen, dass wichtige Aspekte fehlten, die auf dieses Basis getroffenen (und praktisch irreversiblen) Entscheidungen waren dementsprechend auch nicht immer die besten und führten oft zu neuen Problemen, vermeidbarer Mehrarbeit, verärgerten Kunden oder verpassten Geschäftspotentialen.


Schon bald begannen sich daher die in Peters Termine mitgebrachten Unterlagen zu verändern. Um ihn an vorschnellen Entscheidungen zu hindern, wurde prominent auf noch fehlende wichtige Informationen hingewiesen, auf unabsehbare Konsequenzen zu früher Entscheidungen, auf eine unklare Rechtslage oder ähnliche Faktoren. Mit anderen Worten: die ursprünglich sehr lösungsorientierten Menschen in Peters Umfeld entwickelten mehr und mehr eine Problemfixierung und Bedenkenträger-Argumentation.


Bereits das wäre schon problematisch gewesen, es ging aber noch weiter. Immer wieder kam es vor, dass Peter zwar mit Verweisen auf fehlende Informationen oder unabschätzbare Risiken von Schnellschüssen abgehalten werden konnte, er aber in einem anderen Termin von anderen Mitarbeitern versehentlich Informationen bekam, die ihm doch eine Entscheidung ermöglichten. Von der dann nur noch in Kenntnis gesetzt zu werden war eine erstaunlich häufige Frustrations-Erfahrung.


Um dieser Erfahrung nach Möglichkeit nicht ausgesesetzt zu sein, begannen die Mitarbeiter damit, Informationen nicht mehr untereinander zu teilen oder sie möglichst unklar zu formulieren. Da es sich oft im Nachhinein herausstellte, dass einige dieser Informationen auch für andere wichtig gewesen wären, verschlechterte sich die Stimmung in der Belegschaft deutlich. Während vorher ein kollegialer und hilfsbereiter Umgang vorherrschte, entstand jetzt eine Misstrauens- und Blaming-Kultur.


Die Geschichte hatte noch einige weitere unschöne Aspekte, aus den hier beschriebenen lässt es sich aber erkennen, dass tatsächlich ein einziger Manager eine Firmenkultur herunterwirtschaften kann. Und selbst wenn dieser Fall hier ein besonders plakativer ist, es gibt noch viele andere Möglichkeiten, es zu tun, von falsch gesetzen finanziellen Anreizen über bürokratische Prozessvorgaben bis hin zur gezielten Einstellung und Beförderung nicht teamfähiger "Rockstars".


Natürlich steht auch hier am Ende die Frage, wie es besser ginge - die auch (scheinbar) einfach zu beantworten ist: man sollte Menschen wie Peter nicht in hohe Verantwortungspositionen befördern. Das zu schaffen ist aber eine grössere Herausforderung als man denken sollte. Finale Pointe: der hier beschriebene Peter hiess zwar nicht so, wurde aber hinter seinem Rücken so genannt, da seine Karriere dem Peter-Prinzip zugeschrieben wurde. Das wäre nochmal ein grosses und eigenes Thema.



1Auch das Mittagessen war ein Arbeitstermin, und Emails beantwortete er Nachts oder am Wochenende

Dienstag, 28. Mai 2024

Nein, das ist nicht die Unternehmenskultur

Unter Unternehmensberatern gibt es einen alten Witz: wenn man etwas über die Kultur eines Unternehmens wissen will, dann sollte man sich zuerst ihre offizielle Beschreibung zeigen lassen - denn dann weiss man zumindest wie sie nicht ist. Das ist sicher zynisch, das ist aber auch in den meisten Fällen wahr, denn die offiziellen Unternehmenskulturen stimmen nur selten mit denen, die tatsächlichen im Alltag gelebt werden, überein.


Bevor wir auf die Gründe dafür eingehen, ein kurzer Hinweis: es ist in diesem Zusammenhang egal auf welchem Weg die offizielle Unternehmenskultur entstanden ist, wie sinnvoll oder menschenfreundlich sie erscheint, wie sehr sich die Belegschaft mit ihr identifiziert oder wie stark und häufig sie betont oder verlangt wird. Es gibt strukturelle Gründe die praktisch immer dafür sorgen, dass offizielle und gelebte Kultur sich unterscheiden. Hier sind sie:


Kultur ist ausdifferenziert und nicht in wenigen Schlagwörtern beschreibbar

Die meisten offiziellen Beschreibungen von Unternehmenskulturen bestehen nur aus wenigen Werten, Prinzipien oder Umgangsregeln. Selbst wenn diese zutreffen sollten, würden sie aber nur einen Teil der jeweiligen Kultur beschreiben, zu der ausserdem noch Glaubenssätze, Verhaltens- und Deutungsmuster, mündliche Überlieferungen ("wisst Ihr noch, damals in Projekt Omega ..."), sprachliche Besonderheiten, Traditionen und viele weitere Dinge gehören, die insgesamt ganze Bücher füllen würden.


Kultur ist nicht nur positiv

Was praktisch alle offiziellen Kulturbeschreibungen gemeinsam haben ist, dass sie ausschliesslich positive Aspekte beschreiben: Verlässlichkeit, Solidarität, freundlicher Umgang, Leistungsbereitschaft, etc. In der Realität gehören zu praktisch jeder Kultur aber auch negative Aspekte, die häufig sogar mit den positiven zusammenhängen: Sorgfalt führt z.B. oft zu Perfektionismus, Experimentierfreude zu Unvorsichtigkeit, und so weiter. Ohne diese Aspekte sind Kulturbeschreibungen unvollständig.


Kultur ist nicht überall im Unternehmen gleich

Schon in kleinen Unternehmen existieren verschiedene (Teil-)kulturen, die sich zum Teil deutlich unterscheiden: Innendienst und Aussendienst, Entwicklung und Marketing oder Management-Ebene und Umsetzungs-Ebene weichen mitunter so stark voneinender ab, dass von einer gemeinsamen Kultur kaum noch die Rede sein kann. Und in Grossorganisationen kann jedes Ressort oder sogar jede Abteilung eine eigene Kultur haben, die mit der offiziellen nur in Teilen übereinstimmt.


Kultur ist nicht stabil

Mit anderen Worten: selbst wenn die offizielle Unternehmenskultur einmal mit der tatsächlich gelebten übereinstimmen sollte, wäre das nur eine Momentaufnahme. Kommende und gehende Kollegen, steigender Wettbewerbsdruck mit darauf folgenden Verteilungskämpfen um knapper werdende Ressourcen, technische Entwicklungen, gesellschaftliche Trends und vieles mehr tragen ununterbrochen dazu bei, dass Kultur sich verändert - weg von der offiziellen Beschreibung.


Kultur ist subjektiv

Zuletzt: egal was Teil einer offiziellen Unternehmenskultur ist, verschiedene Menschen werden diese Begriffe unterschiedlich verstehen. Gerade die häufig verwandten Schlagworte wie Respekt, Verantwortung, Offenheit, Gemeinsamkeit und Ähnliche sind so generisch, dass sich unterschiedliche Deutungen nicht verhindern lassen. Die Folge ist, dass zwar alle die Kultur mit den gleichen Worten beschreiben, das dahinterliegende Verständnis aber weit auseinandergehen kann.


Es würden sich vermutlich noch weitere Gründe dafür finden lassen, dass die offizielle und die tatsächlich gelebte Unternehmenskultur sich praktisch immer unterscheiden, aber auch aufgrund der hier bereits genannten dürfte klar sein: es ist so. Das macht die offiziellen Kulturbeschreibungen zwar nicht schlecht, es sorgt aber dafür, dass sie (wenn überhaupt) nur Teilaspekte oder Vergangenheitsformen beschreiben, und nicht das was im Alltag anzutreffen ist.


Man muss die schönen Kulturprogramme und -darstellungen auch deshalb nicht abschaffen, man kann sie durchaus beibehalten, wenn auch mit einer wichtigen Ergänzung: allen sollte bewusst sein, dass es sich bei ihnen nicht um eine aktuelle Zustandsbeschreibung handelt, sondern um ein ambitioniertes Zielbild, auf das man zwar hinarbeiten kann, das man aber nicht in Gänze oder dauerhaft erreichen kann. Wenn alle sich auf dieses ständige gemeinsame Hinarbeiten einigen, dann hat eine offizielle Unternehmenskultur einen Sinn. Sonst nicht.

Donnerstag, 7. März 2024

Reed Hastings on the Netflix Culture

Dass Netflix eine agile Vorzeigefirma mit einer ganz besonderen Unternehmenskultur ist, weiss man spätestens seit No Rules Rules, dem Buch seines CEO Reed Hastings. In diesem Interview in der Stanford Graduate School of Business erzählt er, wie sich sein Unternehmen und seine Kultur in den letzten Jahren weiterentwickelt haben und geht dabei auch auf einige Aspekte ein, die in seinem Buch noch nicht vorgekommen sind (z.B. den Einsatz künstlicher Intelligenz).



Für alle denen das noch nicht reicht, gibt es noch einen weiteren Einblick in die Netflix-Kultur, der aus einem etwas anderen Blickwinkel stattfindet. Kathryn Koehler hat in dieser Firma den bemerkenswerten Titel eines "Director of Productivity Engineering" und kann einiges zu ihrer Leistungskultur und deren Wandel in den letzten Jahren sagen. Zum Interview mit ihr geht es hier.

Montag, 24. Oktober 2022

Kulturelles Kapital

Bild: Pexels / Fauxels - Lizenz

Noch einmal zum Thema der Organisations-, bzw. Unternehmens-Kultur. Dass es sich bei ihr um die Gesamtmenge verschiedener Glaubenssätze, Handlungsmaximen, Artefakte und weiterer Bestandteile handelt habe ich bereits aufgeschrieben, heute soll es um eine Vertiefung gehen. Konkret um das Konzept des kulturellen Kapitals, das davon ausgeht, dass Kultur ein Mittel sein kann, das sich erarbeiten und gewinnbringend einsetzen lässt.


Zum ersten Mal formuliert wurde diese Idee 1983 im Aufsatz Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital vom französischen Soziologen Pierre Bordieu, der mit ihr versuchte die Analyse wirtschaftlicher Zusammenhänge auch auf das Thema Kultur anwendbar zu machen. Er übertrug dazu die Idee des wirtschaftlichen Kapitals, also der Ressourcen, die den Menschen für die Verfolgung ihrer Ziele zur Verfügung stehen.


Für Bordieu kommt kulturelles Kapital in drei Zuständen vor: inkorporiertem Zustand, d.h. in den Gehirnen der Menschen, in objektiviertem Zustand, z.B. in Büchern, Maschinen, oder Computerprogrammen, in denen kulturelle Praktiken Spuren hinterlassen haben, und schließlich in institutionalisiertem Zustand, also in Strukturen oder Prozessen, in deren Gestaltung oder Umsetzung sich kulturelle Besonderheiten erkennen lassen.


Egal in welcher dieser drei Formen, kulturelles Kapital entsteht zunächst durch menschliche Tätigkeiten, etwa durch Lernen, Interaktion, Sozialisation, Akkulturation oder das Einarbeiten kultureller Besonderheiten in Arbeitsergebnisse. In allen Fällen kommt es aber im Anschluss zu einer Verstetigung und Sichtbarmachung (z.B. durch bestimmte Begriffsverwendungen), durch welche die Zugehörigkeit der Menschen, Werke und Institutionen zur jeweilen Kultur erkennbar werden.


Sobald das passiert ist entsteht auch eine soziale Auswirkung: andere Angehörige der jeweiligen Kultur erkennen die verbindenden Gemeinsamkeiten. Basierend darauf entstehendt bei ihnen ein Gefühl der Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, das zur Folge hat, dass diesen Menschen, Werken und Institutionen bereits im Voraus ein höheres Mass an Anerkennung, Vertrauen und Unterstützung gewährt wird als anderen, die nicht der gleichen Kultur zugehörig sind.


Der Aufwand der in die Erzeugung von kulturellem Kapital geflossen ist zahlt sich in der Folge aus, da der Vorschuss an Anerkennung, Vertrauen und Unterstützung dazu führt, dass geringere Aufwände in Erklärungen, Einbeziehungen, Überzeugungsversuche und weitere Tätigkeiten zur Gewinnung von Vertrauen und Unterstützung inverstiert werden müssen. Auch die Wahrscheinlichkeit von verdecken Widerständen und dadurch verursachten Effizienzverlusten geht zurück.


Wichtig ist für Bordieu aber, dass der Aufbau dieses Kapitals nicht erst dann beginnen darf wenn man seine positiven Auswirkungen benötigt. Da in der bis dahin vergangenen Zeit Aspekte einer anderen Kultur die Aussenwahrnehmung dominieren würden (irgendeine Form von Kultur ist immer da) wäre die Folge, dass ein paradoxer, d.h. in sich widersprüchlicher Eindruck entstehen würde, der eine eher verunsichernde und Ablehnung erzeugende Wirkung hätte.


Es gibt aber auch solche [Güter], die nur aufgrund eines sozialen Beziehungs- oder Verpflichtungskapitals erworben werden können. Derartige Beziehungen oder Verpflichtungen können nur dann kurzfristig, zum richtigen Zeitpunkt, eingesetzt werden, wenn sie bereits seit langem etabliert und lebendig gehalten worden sind, als seien sie ein Selbstzweck. Dies muß außerhalb der Zeit ihrer Nutzung geschehen sein, also um den Preis einer Investition von Beziehungsarbeit, die notwendigerweise langfristig angelegt sein muss.


Am Ende ist es auch das worauf es ankommt wenn an Organisations- oder Firmenkultur gearbeitet werden soll. Wenn dafür gedachte Aufwände freigegeben werden, muss allen Beteiligten bewusst sein, dass dahinter ein Business Case steckt, dass der aber ein eher langfristiger ist, der auch langfristige kontinuierliche Inverstitionen erfordert. Sind die gegeben kann kulturelles Kapital aufgebaut werden und zum Erfolg beitragen. Wenn nicht - dann nicht.

Montag, 5. September 2022

Innere Kündigung und Quiet Quitting

Bild: Unsplash / Bram Naus - Lizenz

Dass es Konzepte aus der deutschen Management- und Organisationswissenschaft in andere Sprachen schaffen ist mittlerweile selten geworden, es kommt aber noch immer vor. Das jüngste Beispiel dafür ist sogar aus den Filterblasen der Akademiker und Berater ausgebrochen und wird in den sozialen Medien intensiv diskutiert. Die Rede ist von der Inneren Kündigung, bzw. ihrer englischen Übersetzung, dem Quiet Quitting. Aber was verbirgt sich hinter diesem Begriff und wo kommt er her?


Namensgeber der Inneren Kündigung ist Reinhard Höhn, der Begründer des Harzburger Modells. Er definierte sie (u. a. in seinem Buch Die innere Kündigung im Unternehmen - Ursache, Folgen, Gegenmaßnahmen) als eine Arbeitseinstellung, bei der Eigeninitiative und Leistungsbereitschaft auf ein absolutes Minimum reduziert werden, da der Mitarbeiter aufgehört hat in seiner Tätigkeit Freude oder Erfüllung zu finden.


Die entscheidende Ursache ist für Höhn das Verhältnis zu den Kollegen in der Firma. Sobald dieses von fehlender Anerkennung, schlechter Zusammenarbeit, fehlender Kommunikation und ähnlichen Faktoren geprägt ist steigt das Risiko, dass es zu einem Rückzug in die Passivität kommt. Derartige Beziehungsprobleme können überall auftreten - sowohl gleichrangige Mitglieder der eigenen Abteilung als auch Vorgesetzte oder Untergebene können in die Innere Kündigung treiben.


Während das noch sofort eingängig ist sind andere Zusammenhänge erst bei genauerer Betrachtung zu erkennen. Für Höhn gehörte dazu vor allem ein im Unternehmen verbreiteter Pessimismus. Sobald (berechtigt oder unberechtigt) die Meinung vorherrscht, dass alle Anstrengungen wirkungslos und alle Verbesserungsversuche zum Scheitern verurteilt sind kommt es auch hier zu Inneren Kündigung (da kollektiver Pessimismus durch soziale Interaktion entsteht ist auch das ein Beziehungsproblem).


Die offensichtliche Folge ist, dass der Firma die Arbeitskraft und Kreativität des innerlich Kündigenden entzogen werden. So lange es sich um Einzelfälle handelt hat das "nur" sozialen Unfrieden zur Folge, da es zu einer ungleichen Arbeitsverteilung kommt. Wenn grosse Teile der Belegschaft in die Passivität abrutschen können die Auswirkungen schwerer sein, bis zu dem was Höhn "Kreativitätskonkurs" nennt - die Organisation kann dann nicht mehr mit neuen oder schwierigen Herausforderungen umgehen.


In das Englische wurde der Begriff ursprünglich als Employee Disengagement übernommen, war in dieser Form aber weitgehend auf die Betriebs- und Personalwirtschaft beschränkt. Das wesentlich griffigere Quiet Quitting entstand dagegen erst 2022 als Reaktion auf die "Hustle Culture" vieler amerikanischer Unternehmen, d.h. die Anforderung zu ständiger Erreichbarkeit und zu Überstunden bereit zu sein. In vielen Berichten wird Quiet Quitting als Abwehrmassnahme gegen diese Kultur beschrieben.


Sowohl daraus als auch aus den Untersuchungen von Reinhard Höhn lässt sich das Selbe mitnehmen: Unternehmen die ihre Angestellten gut behandeln und darauf achten, dass diese auch untereinander eine gute Arbeitskultur entwickeln müssen sich wegen Innerer Kündigung / Quiet Quitting keine Sorgen machen. Die anderen schon - aber die sind daran selber schuld.

Montag, 4. Juli 2022

Kultur

Bild: Unsplash / Richard Tao - Lizenz

Man kann fest davon ausgehen - wann auch immer eine Organisation sich in Richtung New Work, agile Produktentwicklung oder Vergleichbares verändern will wird sehr bald jemand anmerken, dass man dafür auch an der Kultur arbeiten müsste. Das ist auch grundsätzlich richtig, stösst aber schnell auf ein Problem: nur die wenigsten Menschen können beschreiben was sie unter Kultur verstehen. Da ein gemeinsames Verständnis aber die Grundlage der weiteren Schritte ist sollte man es zuerst herstellen.


Der Begriff Kultur definiert sich ursprünglich lediglich durch seine Abgrenzung zu einem anderen: zur Natur. Die Natur ist alles was auch ohne die Existenz Menschen vorhanden wäre, von der Plattentektonik über das Wetter bis hin zu Pflanzen und Tieren. Alle vom Menschen vorgenommenen Veränderungen an der Natur und alle menschlichen Erfindungen und Ideen sind dagegen Kultur, von der Sprache und der Landwirtschaft über die Musik und die Architektur bis hin zur Betriebswirtschaft und Informatik.1


Aus diesen Beispielen wird klar, dass es die eine einheitliche Kultur nicht gibt. Sie zerfällt in zahllose Subkulturen, die einer geografischen Region, einer historischen Epoche, einer Ethnie, einer Altersgruppe oder einer sozialen Gruppe entsprechen können. Zu der letzten gehören dann u.a. Gruppen mit gleicher Bildung, gleichem Einkommen, gleicher Religion, gleichem Beruf oder gleicher Zugehörigkeit zu einer Firma oder Organisation. Diese zuletzt genannte Subkultur ist die um die es in Change-Prozessen geht.


Eine solche Firmenkultur besteht dann aus verschiedenen Dimensionen. Zum einen den sichtbaren Artefakten wie Architektur, Dresscode und Corporate Design, aber auch Glaubenssätzen wie "ohne Vorschriften würde hier Chaos ausbrechen", Handlungsmaximen wie "im Zweifel eher anrufen als Emails schreiben" oder Gefühlen und Emotionen wie "wir sind hier alle eine grosse Familie". Je nach Einzelfall können noch weitere Dimensionen dazukommen.


All diese Dimensionen sind prägend für die Art wie in einer Firma oder Organisation mit Arbeit und mit den anderen Mitarbeitern umgegangen wird. Herrscht beispielsweise eine Untertanenkultur vor ("ich bin unwissend und machtlos, Veränderungen müssen von anderen kommen") wird ein auf Eigeninitiative und Verantwortungsübernahme basierender Arbeitsmodus kaum funktionieren, in einer Partizipativen Kultur ("ich kann Veränderungen bewirken, aber wenn ich sie will muss ich es selbst tun") dagegen schon.


Was mittlerweile ebenfalls klar geworden sein dürfte: es ist extrem schwierig eine Unternehmenskultur zu verändern, da sie im Wesentlichen in den Köpfen der Menschen existiert. Das heisst nicht, das es nicht ginge, es gibt bekannte Beispiele dafür. Eines des bekanntesten dürfte z.B. das Automobil-Werk im kalifornischen Fremont sein, das nacheinander von GM, Toyota und Tesla betrieben wurde und in der Zeit jeweils eine spürbar andere Firmenkultur (und dadurch bedingte Produktivität) gehabt haben soll.


Wie ein solcher Kulturwandel aussehen könnte ist nochmal eine eigene Geschichte, bevor derartige Schritte angegangen werden ist es aber wie gesagt eine gute Idee sich zuerst ein gemeinsames Verständnis dessen zu erarbeiten was man unter "Kultur" versteht. Erst dann ist es möglich zu überlegen ob sie überhaupt geändert werden kann, und wenn ja wie.



1Die Beschränkung des Kulturbegriffs auf die "schönen Künste" wie Schauspiel, Musik und Literatur ist lediglich eine alltagssprachliche Verkürzung

Montag, 7. März 2022

Psychologische Sicherheit (II)

Bild: Pexels / Monstera - Lizenz

In der agilen Community (und weit darüber hinaus) ist die psychologische Sicherheit mittlerweile eines der am häufigsten genannten Konzepte die zur Förderung von Feedback- und Fehlerkultur grundlegend sind. In den allermeisten Fällen wird sie auch auf einer abstrakten Ebene richtig beschrieben, es ist die Gewissheit aller Mitglieder einer Gruppe ihre Meinung zu kritischen Themen äussern zu können ohne Angst haben zu müssen persönlich angegriffen oder an den Pranger gestellt zu werden.


Durch welche Faktoren dieser Zustand zustande kommen oder verhindert werden kann wird dagegen bereits seltener thematisiert, und wenn doch dann sehr häufig reduziert auf Verhaltensempfehlungen, sowohl für Mitglieder von Teams als auch für Manager. Um nicht falsch verstanden zu werden, diese meisten dieser Empfehlungen sind gut, sie lassen aber einen wichtigen vorgelagerten Schritt aus - verfügt die Gruppe überhaupt einen Raum in dem sie sich psychologisch sicher austauschen kann?1


Bereits für den Psychologen William A. Kahn, der 1990 in einem seiner Artikel den Begriff zum ersten mal verwendete,2 war dieser Aspekt einer der entscheidenden. Die Möglichkeit sich dorthin zurückzuziehen wo nur diejenigen zuhören und zusehen konnten in deren Anwesenheit die psychologische Sicherheit gegeben ist war für ihn ein zentraler Faktor. Dort wo das nicht möglich war fühlten die Beteiligten seiner Studien sich unsicher und überwacht.


The physical office space starkly symbolized the ways that overstepping the boundaries of expected behavior felt unsafe. Wide open and without walls except for four-foot partitions, the office resembled an open-air maze of public work spaces. There was also a loft that looked like a balcony. The space suggested that people were at once actors and audience. Its openness symbolically placed them on a stage in which they were constantly exposed to the scrutiny of others. There was no backstage, no place in which they could doff all vestiges of role and use their own voices.


Auf die meisten modernen Arbeitsplätze bezogen bedeutet das, dass sie für die Herstellung psychologischer Sicherheit nicht gut geeignet sind. Die von Kahn beschriebenen Grossraumbüros sind heute in grösseren Firmen der Standard, häufig sogar verbunden mit einer Aufhebung fester Arbeitsplätze und mit Meetingräumen die lediglich von Glaswänden umgeben sind.3 Geschützte Teamräume findet man nur in sehr wenigen Unternehmen.


In dieser Hinsicht hat die Verlagerung ins Homeoffice für Verbesserung sorgen können, allerdings sind auch in der Remote-Arbeit unsichere Kommunikations-Situationen häufig. Vor allem Unterhaltungen die in zu grossen oder öffentlich zugänglichen Chatgruppen stattfinden sind anfällig für psychologische Unsicherheit, das Gleiche kann zutreffen für Video-Calls die jederzeit ohne Einladung oder "Anklopfen" betreten werden können, da sich der Link zu ihnen auf öffentlichen Seiten befindet.


Dass die Bekenntnisse zu psychologischer Sicherheit ernst gemeint sind kann man also (unter anderem) daran erkennen, dass es für Teams sowohl physisch als auch digital die Möglichkeit gibt sich in geschützte Räume zurückzuziehen. Umgekehrt ist dort wo es lediglich Grossräum-Büros, gläserne Meetingräume und öffentliche Chats gibt das Konzept entweder noch nicht völlig verstanden worden oder die Bekenntnisse sind nicht so ernst gemeint wie behauptet.


Für die Einführung psychologischer Sicherheit ergibt sich schliesslich, dass die ersten Menschen die sich damit beschäftigen sollten oft nicht die sind von dem man es als erstes annehmen würde. Es sind nicht Manager, HR-Referenten, Agile Coaches oder Chief Culture Officer sondern - der Innenarchitekt und der Tool-Administrator.



1Ein Raum kann in diesem Kontext sowohl ein pysischer Raum sein (z.B. ein Büro) als auch ein digitaler (z.B. ein Chat oder ein Video-Call)
2Häufig wird er auch Amy Edmondson (1999) oder dem Aristotle-Projekt von Google (2016) zugeschrieben, die Veröffentlichung von Kahn war aber deutlich früher
3Was oft noch dazukommt ist, dass diese Räume strukturell überbucht sind und daher nicht kurzfristig zur Verfügung stehen

Dienstag, 3. August 2021

Brauchbare Illegalität als Organisationskultur

Das Konzept der brauchbaren Illegalität hat mich schon als Student fasziniert, und bis heute hat sich das nicht geändert. Stefan Kühl weist in diesem Vortrag auf einen Aspekt hin der oft heimlich verschwiegen wird: in vielen Organisationen ist diese Art des Regelbruchs Teil der Organisationskultur, ist also ein üblicher Weg des täglichen Arbeitens.



Für das tiefere Eintauchen in das Thema der Gesetzes- und Regelbrüche empfiehlt sich ein längerer Text den Kühl vor einiger Zeit geschrieben hat: Zur Entstehung, Durchsetzung und Regulierung von Regelabweichungen. Nicht nur wegen seines Inhaltes zu empfehlen sondern auch wegen seines umfangreichen Literaturverzeichnis.

Freitag, 5. März 2021

The agile Bookshelf: The Culture Map

Bild: Pixabay / Geralt - Lizenz

Indirekt ist The Culture Map von Erin Meyer bereits hier auf dieser Seite thematisiert worden, und zwar bei der Besprechung ihres zweiten Buches, No Rules Rules, das sie gemeinsam mit Reed Hastings veröffentlicht hat. Dessen zehntes Kapitel greift die verschiedenen Dimensionen von Kultur auf, die das Hauptthema von The Culture Map sind und dient als Beispiel für ihre Anwendung.


Allen die von diesem Kapitel neugierig geworden sind (und natürlich allen anderen auch) kann das Lesen von Meyers Hauptwerk nur nahegelegt werden. Angereichert mit zahllosen Beispielen aus ihrer Forschung und ihrem persönlichen Erleben werden zentrale Unterschiede zwischen verschiedenen Landeskulturen herausgearbeitet und nachvollziehbar gemacht, so dass viele Begegnungen mit Menschen aus anderen Ländern dadurch in neuem Licht erscheinen.


Natürlich sind unter den aufgeführten Beispielen einige der grossen Klassiker, darunter die unterschiedliche Wertigkeit von Pünktlichkeit in Mitteleuropa und Südasien oder die unterschiedliche Direktheit von Feedback in französisch-sprachigen und englisch-sprachigen Ländern, aber auch solche die man nicht erwartet hätte: etwa dass deutsche und amerikanische Manager sich (aus jeweils unterschiedlichen Gründen) gegenseitig als hierarchisch und unflexibel empfinden.


Diese und weitere Unterschiede werden von Meyer acht verschiedenen Dimensionen zugeordnet, in denen sie die verschiedenen Kulturen jeweils irgendwo auf einer Skala zwischen zwei Glaubens-, bzw. Handlungsmustern einordnet:

  • Kommunikation - wenig kontextspezifisch oder hoch kontextspezifisch?
  • Feedback - direkt oder indirekt?
  • Führungsstil - egalitär oder hierarchisch?
  • Entscheidungsprozesse - im Konsens oder direktiv?
  • Argumentieren - beispielhaft/spezifisch oder ganzheitlich/systemisch?
  • Vertrauen - basierend auf persönlichem Bekanntheitsgrad oder auf Qualität der Zusammenarbeits-Ergebnisse?
  • Konfliktaustragung - konfrontativ oder ausweichend/umschreibend?
  • Zeitempfinden - linear/präzise oder flexibel?

Diese Einordnung (die wie alle derartigen Modelle im Einzelfall problematisch, in der Gesamtbetrachtung aber hilfreich sein kann) kann nicht nur von ihr übernommen sondern auch für die eigene Gruppe/das eigene Unternehmen individuell erstellt werden um Hinweise darauf zu erhalten wo in der Kommunikation mit anderen Gruppen Probleme auftreten könnten.


Um ganz zum Schluss noch die Kurve zum Hauptthema dieser Seite zu bekommen: Ein interessanter Aspekt taucht eher versteckt in diesem Buch auf, es ist der der "kulturellen Agilität" (culturally agile). Unter ihm versteht Meyer die Fähigkeit sich schnell und ohne grosse Missverständnisse und Reibungsverluste an die kulturellen Besonderheiten der Gesprächs- oder Geschäftspartner anpassen zu können. Sicherlich eine erstrebenswerte Fähigkeit.

Montag, 18. Januar 2021

Verknappung als Treiber für Kulturwandel

Über die Jahre habe ich einige Versuche erleben dürfen Unternehmenskulturen zu verändern, und Simon Sinek fasst es gut zusammen: viele werden betrieben wie Marketing-Kampagnen, durch die möglichst viele Menschen möglichst schnell überzeugt werden sollen. Leider ist auch seine darauf aufbauende Beobachtung richtig, die meisten davon sind bestenfalls relativ erfolgreich. Sein Ansatz ist erkennbar anders - er basiert darauf sich auf die Gruppe der Early Adopters zu konzentrieren und zu Beginn die Möglichkeiten zur Teilnahme zu verknappen. Dadurch steigt in der Wahrnehmung des restlichen Unternehmens die Wertigkeit Change-Programms und damit auch der Wunsch daran teilzunehmen.



Man kann sicherlich lange darüber diskutieren wie realistisch ein derartiger Umsetzungsplan ist und auf welche Widerstände er stossen dürfte, sein Vortrag ist es aber auch aus einem zweiten Grund wert gesehen zu werden - er überträgt die bekannte Gruppeneinteilung potentieller Kunden innovativer Produkte auf Kulturwandel-Programme (Innovators, Early Adopters, Early Majority, Late Majority, Laggards). Das ist eigentlich naheliegend, wird aber (noch) zu selten gemacht.

Dienstag, 12. Februar 2019

Psychologische Sicherheit

Bild: Pixabay / Jill111 - Lizenz

Zu den vermutlich am stärksten unterschätzten Voraussetzungen für agile Teams dürfte die Psychologische Sicherheit gehören, also die Gewissheit für Diskussionsbeiträge, Vermutungen und Fehler nicht angegriffen, gedemütigt oder bestraft zu werden. Häufig als "Psycho-Kram" verworfen stellt es einen Schlüsselfaktor für viele Elemente dar die für die Agilität wesentlich sind.

Wer sich wünscht, dass auch neue, innovative und disruptive Produktideen entstehen darf nicht alles Unbekannte von Anfang an abbügeln, wer will, dass die eigenen Mitarbeiter und Kollegen sich weiterentwickeln darf sich nicht über anfängliche Verständnisfragen lustig machen, wer möchte, dass aus Fehlern gelernt wird darf nicht jeden der sie macht an den Pranger stellen. Dort wo es doch geschieht werden die Menschen im Zweifel lieber schweigen als sich angreifbar zu machen. So weit, so klar.

Eine Kultur zuzulassen in der die genannten Verhaltensweisen nicht überhand nehmen ist trotzdem schwer, vor allem in Organisationen in denen über eine längere Zeit eine Fehlervermeidungs- oder sogar Fehlerbestrafungs-Kultur stattgefunden hat. Diese zu überwinden kann harte Arbeit an sich selbst erfordern - für die jeweiligen Vorgesetzten, für die Kollegen, aber auch für diejenigen selbst die eine Kultur der psychologischen Sicherheit für sich und andere einfordern.

Die Kehrseite einer solchen Kultur ist nämlich, dass Fragen, Probleme, Fehler und Herausforderungen deutlich häufiger ausgesprochen werden als vorher - und genau das ist auch der Sinn des Ganzen. Das gesamte Konstrukt der Sorgen-, Angst- und Schamfreiheit hat (aus Unternehmenssicht) den zentralen Zweck, dass Mißstände festgestellt, sachlich diskutiert und beseitigt werden können. Dessen muss man sich bewusst sein.

Dort wo an psychologischer Sicherheit gearbeitet wird kommt es daher mitunter zu ganz eigenen Leidensgemeinschaften: Managern die sich zurücknehmen müssen und Teammitgliedern die sich öffnen müssen. Beides erfordert zu Beginn Überwindung, beides führt hinaus aus der eigenen Komfortzone. Aber (und hier schliesst sich der Kreis) - beides wird um so einfacher je mehr psychologische Sicherheit vorhanden ist.

Donnerstag, 6. September 2018

Untertanenkultur

Bild: Public Domain Pictures - CC0 1.0
Zu den Demonstrationen von Rechtsradikalen und "besorgten Bürgern" die in den letzten Tagen in Chemnitz stattgefunden haben ist eigentlich schon alles gesagt worden (und Politik soll auch nicht das Thema dieser Website werden). Es gibt aber einen Aspekt der gesondert herausgehoben werden kann, weil er auch über die Politik hinaus eine Bedeutung hat: die von einem Teil der Demonstranten geäussterte unspezifische Erwartung, "irgendjemand" müsste sofort "irgendetwas" tun um die Gesamtsituation zu verbessern (ein Beispiel hier).

Hinter einer solchen Erwartung stehen mehrere verschiedene Grundeinstellungen. Zum einen die, dass derjenige der sich so äussert nicht selbst aktiv werden möchte. "Jemand anders soll tätig werden, nicht ich." Paradoxerweise ist das verbunden mit einem Gefühl der Dringlichkeit. "Es muss etwas passieren, und zwar jetzt." Zuletzt ein offenes Desinteresse an einer Beteiligung an der Lösungsfindung. "Was gemacht wird interessiert mich nicht, solange dadurch alles besser wird."

Diese Grundeinstellungen sind vor allem in grossen Organisationen wie Behörden oder Konzernen immer wieder anzutreffen. Die Ursache dafür (die auch die Verbindung zu den in der DDR großgewordenen "besorgten Bürgern" bildet) ist die private und/oder berufliche Sozialisation in hierarchischen, von Befehl und Gehorsam geprägten sozialen Systemen. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer "Untertanenkultur", einem Begriff der eine nähere Betrachtung wert ist.

Geprägt wurde er von den beiden amerikanischen Politikwissenschaftlern Gabriel Almond und Sidney Verba in ihrem Werk "The Civic Culture". Basierend auf tausenden von Interviews in mehreren von einer Untertanenkultur geprägten Ländern konnten sie aufzeigen, dass diese auf vier Annahmen beruht:
  • Der einzelne Mensch ist unwissend und kann nichts bewirken
  • Das Gesamtsystem ist allwissend und kann alles erreichen
  • Der Einfluss des Einzelnen auf die Hierarchie ist winzig
  • Der Einfluss der Hierarchie auf den Einzelnen ist gewaltig
Es ist erkennbar: wer ein Weltbild hat das auf diesen vier Annahmen beruht wird fast zwangsläufig die Erwartungshaltung entwickeln, dass "die da oben" von sich aus darauf kommen müssen, wie eine als problematisch wahrgenommene Situation verbessert werden kann. passiert das nicht wird es als Systemversagen wahrgenommen, was zu Frustration und Wut führen kann.

Um die Betroffenen aus dieser Wut und Frustration in ein konstruktives Miteinander zurückzuführen ist ein Kulturwandel nötig, der in diesem Modell durch eine Widerlegung der besagten Annahmen herbeigeführt werden kann. Den Menschen muss klar werden, dass sie Gestaltungsspielraum haben, dass ihre Ideen gehört werden und dass das Gesamtsystem auf diesen Input angewiesen ist um funktionieren zu können. Das sagt sich leicht, umzusetzen ist es schwer. Aber es lohnt sich.

Wenn dieser Wandel stattfindet kann aus der Untertanenkultur (und der Erwartung "irgendjemand anders" müsste "irgendwie" alle Probleme beseitigen) eine partizipierende Kultur werden, in der jeder von sich aus dazu beiträgt, dass permanent an Verbesserungen gearbeitet wird. Dadurch wird nicht nur das Gesamtsystem leistungsfähiger, es werden auch die ihm angehörenden Menschen zufriedener. Und "besorgte Bürger" spielen dann keine Rolle mehr.

Donnerstag, 12. Oktober 2017

Bad technology choices can influence your culture

Die agile Coaches dieser Welt werden nicht müde es zu betonen: praktisch alles in der agilen Softwareentwicklung basiert auf der (Unternehmens)Kultur, bzw. auf ihren einzelnen Ausprägungen. Auf Werten, Verhaltensweisen, Überzeugungen und Mindsets. Das ist zwar richtig, verkennt aber einen zentralen Aspekt - die eingesetzten Technologien können auch die Kultur beeinflussen. Tim Gross erklärt in diesem Video Zusammenhänge und Auswirkungen.



Man kann es natürlich auch umgekehrt sehen: wenn die richtige Kultur vorhanden ist wird das automatisch zur Folge haben, dass bestimmte technologische Entscheidungen nicht getroffen oder verworfen werden. Grundsätzlich stimmt das zwar, stellt aber alle Unternehmen vor große Herausforderungen in denen der Kulturwandel gerade stattfindet und ggf. gerade erst begonnen hat. Wenn in einer solchen Situation die falschen technologischen Entscheidungen getroffen (oder nicht korrigiert) werden, dann kann das den Wandel stoppen oder sogar zum Scheitern bringen.

Dienstag, 27. Juni 2017

A Culture of Experimentation

Dieser Eintrag hier ist gedacht für einige bestimmte Leser, die mir in letzter Zeit erzählt haben, die Erfolge der Firma Spotify würden auf deren organisatorischem Aufbau (Tribes, Gilden, etc.) beruhen. Hallo Damen und Herren, Ihr wisst wer Ihr seid.



Die tiefere Aussage hinter der Einbindung dieses Videos auf dieser Seite: Spotifys Erfolg beruht auf vielen weiteren Faktoren, wie in diesem Fall auf umfangreichem A/B-Testing. Das wiederum beruht auf der Fähigkeit Software in sehr kurzen Intervallen auf Produktion zu bringen, die beruht auf einer hohen Automatisierungsrate (Tests, Deployments), die wiederum auf technischer Exzellenz, diese entsteht aus einer bestimmten Kultur, etc. Long Story short: die Einführung von Tribes und Gilden (oder Microservices) reicht nicht aus um besonders agil und/oder erfolgreich zu werden. Es gehört viel, viel mehr dazu.

Montag, 13. Juni 2016

Agile und Scrum funktionieren in diesem Land nicht [egal von welchem wir reden]

Grafik: Wikimedia Commons/Colomet - CC BY-SA 3.0
Zu den interessanten Aspekten eines Berufslebens auf großen IT-Projekten gehört unter anderem, dass man Menschen aus allen Gegenden der Welt kennenlernt. Ich habe schon mit Belgiern, Brasilianern, Chinesen, Engländern, Franzosen, Griechen, Indern, Japanern, Kamerunern, Marokkanern, Österreichern, Polen, Russen, Schweizern, Singapurern, Thailändern, Ungarn und vielen weiteren Nationalitäten zusammengearbeitet. Und so unterschiedlich sie auch waren, in einem waren sie sich oft einig - bei ihnen zu Hause (oder dort wo sie jetzt wären) würden Agile und Scrum nicht funktionieren, das würde mit der Kultur dort(™) nicht zusammenpassen.

An diese Gespräche muss ich denken, wenn ich regelmässig Artikel lese wie Why Agile does not Work In Germany oder Scrum does not work here in Asia. Sie alle (genau wie die oben genannten Kollegen) nennen immer wieder die selben Argumente: Bei uns(™) legen die Menschen zu viel Wert auf Hierarchien, die Gesellschaft ist zu traditionell, es gibt keine Fehlertoleranz, die Firmen sind zu stark durch klassisches Management geprägt. Und darum können dort(™) Scrum und andere agile Methoden nicht funktionieren. Nicht im Startup und nicht im Konzern. Grundsätzlich nicht. Aus Prinzip nicht. Nie nicht. Niemals!

Anders ist es natürlich in anderen Ländern (meistens dort wo man nicht herkommt oder ist). Da ist alles viel besser. Da(™) sind die Hierarchien flacher, die Menschen offen für den Fortschritt, aus Fehlern lernt man, die Firmen erproben neue Management-Konzepte. Aber diese tollen Zustände gibt es natürlich nicht überall, sondern nur in Amerika. Oder in Schweden. Oder in England, Frankreich, Indien, Japan, der Schweiz und Deutschland. Und spätestens jetzt wird klar: alle diese Geschichten sind nichts als grober Unfug.

Zum einen gibt es in jedem Land der Welt Menschen, die hierarchieverliebt, veränderungsablehnend, Fehler-avers und von Command & Control geprägt sind. Sogar im gelobten agilen Land Amerika gibt es sie, einige der un-agilsten Manager die ich jemals getroffen habe kamen aus dem Silicon Valley. Auf der anderen Seite kommen einige der besten Scrum Master und agile Coaches die ich erleben durfte aus Indien, Japan, Russland, Singapur oder anderen Ländern, wo es sie "kulturell bedingt" gar nicht geben dürfte. Kurz gesagt - wer behauptet, in bestimmten Ländern würden Agile und Scrum nicht funktionieren, erzählt Quatsch.

Aber wenn das so ist - warum dann diese Geschichten? Aus meiner Erfahrung gibt es dafür vor allem drei Gründe: entweder um zu erklären, warum man von zu Hause weggegangen ist, obwohl dort eigentlich "alles viel besser ist" (Wetter, Essen, Laune, Leute, etc.). Oder um das eigene Scheitern zu beschönigen. "Scrum funktioniert dort nicht" ist ein viel bequemerer Grund als "Es war von Anfang an eine schlechte Idee, nur billige Junior- und Offshore-Entwickler einzustellen". Häufig aber auch, weil man einen Grund sucht um die eigenen Beratungsdienstleitungen zu verkaufen. "Ja, Ihr habt leider ein kulturelles Problem mit agilen Methoden. Aber mit mir als Scrum Coach kommt Ihr ganz sicher darüber hinweg."

Aber ganz egal warum man erzählt, dass Scrum in einem bestimmten Land aus Prinzip nicht funktioniert - wahr wird es dadurch nicht.