Posts mit dem Label Bürokratie werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Bürokratie werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Dienstag, 11. März 2025

Overcompliance

Wer versucht in grossen Organisationen Bürokratie zu bekämpfen, der wird möglicherweise an der folgenden paradoxen Situation vorbeigekommen sein: während die Ausführungs-Ebene unter der Last der Prozesse und Vorschriften ächzt, ist sich die Führungsebene keiner Schuld bewusst, und kann sogar darauf verweisen, dass das offizielle Regelwerk sogar relativ schlank ist. Für diesen scheinbar widersinnigen Zustand gibt es einen häufigen Grund: Overcompliance.


Um das besser begreifen zu können schauen wir uns zunächst den zugrundeliegenden Begriff an: die Compliance. Hinter ihm verbirgt sich die anzustrebende Regelkonformität von Unternehmen, Behörden und sonstigen Organisationen, also die Einhaltung von Gesetzen, Richtlinien und internen Vorschriften. Compliance zu haben (bzw. Compliant zu sein) ist als Folge dessen das Ziel zahlreicher Prozesse, Tätigkeiten und Organisationseinheiten, die nur zu diesem einen Zweck existieren.


Das Problem bei der Herstellung von Compliance ist allerdings, dass es an ihren Rändern eine Grauzone gibt. Ab wann wird aus einer Routine ein zu dokumentierender Prozess? Gibt es Bagatellgrenzen für Zeit-, Qualitäts- und Budgetabweichungen? Wann können Anweisungen mündlich erfolgen, wann ist die Text-Form ausreichend und wann ist die Schriftform nötig? Alle diese Fragen sind in den Einzelfällen nicht immer eindeutig zu beantworten und lassen einen Interpretationsspielraum offen.


So lange dieses freie Interpretieren innerhalb der Grauzone keine negativen Folgen hat, ist das auch meistens unproblematisch, schwierig kann es aber werden, wenn das zu Unfällen, Qualitätsmängeln oder versehentlichen Regelverstössen führt. Viele Organisationen kehren in derartigen Situationen den Interpretationsspielraum um - alles woraus sich eine wie auch immer geartete Verantwortlichkeit ableiten lässt, wird rückwirkend zur Norm erklärt - oft mit disziplinarischen Folgen für die Betroffenen.


Und an dieser Stelle kommt es zur Overcompliance: um nicht ebenfalls oder erneut für etwas zur Verantwortung gezogen zu werden, was sich innerhalb einer Grauzone abspielt, beginnen die Mitarbeiter jetzt die jeweils strengste (und für sie sicherste) Auslegung der Gesetze, Richtlinien und internen Vorschriften anzuwenden. Im Zweifel also alles dokumentieren und schriftlich genehmigen zu lassen, und bereits kleinste Abweichungen zu verfolgen und zu eskalieren.


Bereits das kann lähmende Auswirkungen auf nahezu alle Abläufe haben, im schlimmsten Fall kann es aber sogar noch schlimmer werden - wenn es als Reaktion auf eine kontrollierende und überwachende Variante der Overcompliance dazu kommt, dass selbst für kleinste Aufwände explizite und schriftliche Anweisungen und Abnahmen nötig sind (gewissermassen Gegen-Overcompliance), ist es nicht mehr weit bis zu gegenseitigen Blockaden und bis zum totalen und dauerhaften Stillstand.


Um sich aus einer derartigen Situation zu befreien (oder um es gar nicht erst soweit kommen zu lassen) sind zwei Dinge notwändig: zum einen muss man akzeptieren, dass sich nicht alle Eventualitäten vorhersehen und mit vertretbarem Aufwand regulieren lassen, und zum anderen muss man darauf verzichten, nach in Grauzonen stattgefundenen Unfällen, Qualitätsmängeln oder versehentlichen Regelverstössen immer nach einem Schuldigen zu suchen und ihn bestrafen zu wollen.1


Was darüber hinaus ein sinnvolles Werkzeug für die Verhinderung von Overcompliance sein kann, ist eine Vereinbarung, bei allen Regel-Umsetzungen immer die am wenigsten restriktive Variante anzustreben und von anderen zu fordern. Idealerweise kann das sogar Teil eines "Gesellschaftsvertrages" werden, an dem sich die gemeinsame Zusammenarbeit ausrichtet und auf den man sich bei Prozessgestaltungen, in Konflikten und bei Meinungsverschiedenheiten berufen kann.



1Das bedeutet natürlich nicht, dass man darauf verzichtet, daran zu arbeiten, dass sich derartige Vorfälle nicht wiederholen - das geht aber auch ohne Schuldzuweisungen

Donnerstag, 20. Februar 2025

Bürokratie

Bild: Flickr / Queensland State Archives - Public Domain

Die Klagen über zu viel Bürokratie kennt man aus nahezu jeder grösseren Organisation, egal ob in der freien Wirtschaft, in der staatlichen Verwaltung oder bei Nichtregierungsorganisationen. Erstaunlich ist dabei aber in fast allen Fällen, dass es sich um eher unspezifische Beschwerden handelt - meistens werden nur zu viele Prozesse und Vorschriften genannt, ohne die genauer zu beschreiben. Dabei ist es durchaus möglich, diese aufzuschlüsseln, um sie deutlich klarer erkennen und ggf. beseitigen zu können.


Wichtig ist dabei, dass die offiziellen Kategorien nur eingeschränkt hilfreich sind, da es sich bei ihnen oft um Sammelbegriffe für verschiedene vorgeschriebene Tätigkeiten handelt. So kann sich z.B. hinter einer Sorgfaltspflicht oder einer Nachweispflicht alles Mögliche verbergen, mit je nach Einzelfall deutlich unterschiedlichen Auswirkungen. Eine differenzierte Betrachtung macht daher Sinn, und mit ihr kommt man zu dieser (sicherlich unvollständigen) Liste bürokratiefördernder Vorgaben:


Durchführungspflichten

Hier geht es darum, wer was zu tun hat und in welcher Reihenfolge der Arbeitsschritte. Das kann abstrakt sein, wie bei der Vorgabe eines Vier-Augen-Prinzips, aber auch komplizierte vorgegebene Abläufe umfassen, z.B. bei der Wartung einer Maschine.


Informierungspflichten

Aufbauend auf den Durchführungspflichten geht es als nächstes darum, andere über das was man selbst getan hat (oder vorhat) in Kenntnis zu setzen. Detailgrad und Empfänger können dabei je nach Fall unterschiedlich sein, wichtig ist, dass irgendjemand informiert worden ist.


Begründungspflichten

Bereits etwas einengender. Es reicht nicht mehr, zu berichten, was man getan hat oder vorhat, es muss auch klar werden, aus welcher Motivation heraus das geschieht, mit welchem Ziel oder auf wessen Anweisung. Eine häufige Erweiterung ist die Begründung für den Durchführungszeitpunkt.


Dokumentationspflichten

Die Formalisierung der Informierungspflichten. Der Kommunikationskanal zur Übermittlung der Informationen ist nicht mehr frei wählbar sondern vorgegeben, am häufigsten ist dabei die Vorgabe der Schriftform (ggf. verstärkt durch die Pflicht zur persönlichen Identifikation durch Unterschreiben).


Formatierungspflichten

In gewisser Weise die Formalisierung der Formalisierung. Es reicht nicht mehr, in irgendeiner Form die Informationen über die eigenen Handlungen zu übermitteln, auch die Struktur dieser Information wird jetzt vorgegeben, z.B. in Form einer Tabelle oder eines Formulars.


Nutzungspflichten

Die Vorgabe von Arbeitswerkzeugen. Das können physische Werkzeuge sein, digitale Werkzeuge aber auch bestimmte Räumlichkeiten, in denen Arbeit verrichtet werden muss. Eine noch immer erstaunlich häufige Extremform ist die an den hierarchischen Rang gekoppelte Vorgabe der Tintenfarbe.


Unterlassungspflichten

Das Spiegelbild der Nutzungspflichten. In einer restriktiven Variante ist alles zu unterlassen, was nicht explizit zur Nutzung vorgegeben ist, in einer offeneren Variante sind nur solche Handlungen zu unterlassen, die explizit verboten werden. Beides kann aber ggf. zu Handlungsunfähigkeit führen.


Anhörungspflichten

Während die zuvor genannten Pflichten eine Person oder Organisationseinheit selbst betreffen, werden jetzt andere einbezogen, die ein Recht darauf haben, ihre Meinung zu den Sachverhalten abzugeben, über die sie informiert wurden (ggf. mit der Erweiterung, dass diese festzuhalten ist).


Beteiligungspflichten

Mit dieser Stufe ist das Mitwirken Anderer nicht mehr optional und auf die Meinungs- oder Bewertungsabgabe beschränkt, sondern verpflichtend und in die Arbeitsabläufe fest eingebunden, z.B. in Form einer Zulieferung oder Qualitätssicherung.


Kenntnisnahmepflichten

Das Gegenstück zu den Informierungspflichten. Wer auch immer Informiert wird darf das nicht einfach ignorieren, sondern ist verpflichtet, es selbstverantwortlich zur Kenntnis zu nehmen und von sich aus zu reagieren, wenn er angehört oder beteiligt werden will.


Überprüfungspflichten

Die Steigerung der Kenntnisnahmepflichten. Übermittelte Informationen müssen nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auf ihre Richtigkeit und ggf. Angemessenheit überprüft werden, einschliesslich einer Rückmeldung, wenn eines davon nicht gegeben sein sollte.


Genehmigungspflichten

Die Formalisierung und Generalisierung der Überprüfungspflichten. Übermittelte Informationen müssen nicht mehr nur zur Kenntnis genommen und ggf. überprüft werden, ohne eine auf dieser Überprüfung beruhende Freigabe darf der jeweilige Arbeitsvorgang nicht fortgesetzt werden.


Rechtfertigungspflichten

Spätestens an dieser Stelle wird es unangenehm. Wenn ein Überprüfungs- oder Genehmigungsprozess zu einem negativen Ergebnis führt, ist zu erklären, durch welche Fehler oder Nachlässigkeiten es überhaupt dazu kommen konnte.


Qualifizierungspflichten

Sowohl als Folge von Überprüfungs- oder Genehmigungsprozessen oder vorbeugend kann es sein, dass bestimmte Ausbildungen oder Schulungen verpflichtend vorgegeben werden, in der Regel vermunden mit der Pflicht zum Nachweis der Teilnahme oder des Bestehens einer Prüfung.


Weiterbildungspflichten

Die Verstetigung der Qualifizierungspflichten. Es reicht nicht mehr aus, Ausbildungen oder Schulungen einmal zu durchlaufen, es muss darüber hinaus in regelmässigen Abständen zu Wiederholungen, Auffrischungen, Erweiterungen oder Resensibilisierungen komen.


Stellenbesetzungspflichten

Eine Konsequenz aus den zuvor genannten Pflichten. Um ihre Erfüllung mit der nötigen Kapazität, Qualifikation und Aufgabenteilung durchführen zu können, sind Planstellen notwendig. Eigentlich nur ein Symptom der Bürokratisierung, selbst wenn es oft selbst für Bürokratie gehalten wird.


Wie oben gesagt, diese Auflistung ist sicher noch unvollständig, dass die Befolgung aller dieser Pflichten in erheblichem Ausmass zu Bürokratie im Sinn von formalisierter, nicht Mehrwert schöpfender Verwaltungsarbeit führen kann (und meistens auch führen muss), dürfte aber offensichtlich sein. Und trotzdem ist es so, dass sie alle in jeder grösseren Organisation anzutreffen sind (wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung).


Dass das so ist, liegt daran, dass keine dieser Vorgaben komplett unsinnig ist, in jeder von ihnen wird man einen Kern von Sinnhaftgkeit finden können, schliesslich erfüllt Bürokratie durchaus einen Zweck. Es kann also kein Ziel sein, sie (oder die ihr zu Grunde liegenden Pflichten) komplett abzuschaffen. Stattdessen muss es darum gehen, die Bürokratie auf das sinnvolle Mindestmass zu beschränken - im Zweifel durch regelmässige Evaluierung und Justierung.


Und jetzt kommt es: um Evaluierung und Justierung durchführen zu können, sind wieder einige der oben genannten Pflichten notwendig, selbst wenn auch diese zwangsläufig bis zu einem gewissen Grad bürokratisch sein müssen Die finale Pointe lautet also - um Bürokratie zu bekämpfen, braucht man noch mehr Bürokratie.

Donnerstag, 7. Juli 2022

Solicitud de Número de Identidad de Extranjero (NIE) y Certificados (LO 4/2000 y RD 557/2011)

Es gibt sie, diese wirklich schlimmen Situationen in denen man sich hilflos einer alles verlangsamenden Bürokratie ausgeliefert fühlt. In dem jeweiligen Moment ist das vor allem ein Gefühl der Machtlosigkeit, man kann aber auch versuchen Positives daraus zu ziehen: zum Beispiel lässt sich an diesen Fällen gut analysieren welche Faktoren und Mechanismen überhaupt dazu führen, dass die Bürokratie (die ja auch gute Seiten hat) so über die Stränge schlägt. In anderen Kontexten kann man dann vorbeugen.


Der aktuelle Fall ist folgender: für einige zukünftige Vorhaben werde ich in der Lage sein müssen, in Spanien Geschäfte abschliessen zu können. Das ist dank der Europäischen Union auch möglich, erfordert aber, dass man sich zuvor eine Ausländeridentifikationsnummer ausstellen lässt, oder wie es im Spanischen heisst eine Número de Identidad de Extranjero, abgekürzt NIE. In Spanien bekommt man die bei der Polizei, im Ausland ist es komplizierter.


Vor der Corona-Pandemie konnte man für die NIE einfach ohne Termin das nächste Konsulat aufsuchen. Früher oder später hatte dann dort ein Sachbearbeiter Zeit und zog aus irgendeiner Schublade die entsprechenden Formulare, die man zusammen mit ihm ausfüllen konnte. Mit Corona hat sich das geändert, da (nachvollziehbarerweise) verhindert werden soll, dass sich im Konsulatsgebäude Menschenansammlungen bilden. Man muss sich jetzt online einen Termin geben lassen.


Diese Online-Terminvergabe funktionierte bis in den letzten Winter so: auf der Website des Konsulats fand man nach etwas Suchen die NIE-Themenseite. Sehr deutlich wurde dort darauf hingewiesen, dass die Beantragung nur in Präsenz möglich ist, und dass ein solcher Termin nur durch ein Kalender-artiges Tool gebucht werden könnte, nicht am Telefon oder per Mail. In diesem Tool fand sich aber kein einziger freier Termin. Nicht ein einziger. Auch langfristig nicht.


Ich habe dann doch angerufen und landete bei einem sehr freundlichen Menschen, der den Grund erklärte. Da in den jeweils nächsten Wochen alle Termine immer ausgebucht wären, würden viele Antragsteller gleich mehrere Termine in der weiteren Zukunft buchen, um dann Auswahl und Flexibilität zu haben. Die meisten würden daher kurz bevor sie stattfinden bestimmt wieder freigegeben, ich sollte einfach immer wieder auf die Seite gehen um einen solchen Moment zu erwichen.


Verärgert aber schicksalsergeben machte ich das, manchmal täglich, manchmal wöchentlich, manchmal mehrfach am Tag. Über mehrere Monate lang, ohne Erfolg. Auch ein weiterer Anruf brachte nichts. Man könne nichts machen, die Termine seien nun mal ausgebucht und man könne schliesslich nicht wissen, welcher wirklich wahrgenommen werden würde. Also ging es weiter, bis im Frühling plötzlich etwas Unerwartetes passierte: die NIE-Themenseite war von der Website des Konsulats verschwunden.


Da das gesamte Design der Internet-Präsenz sich verändert hatte, war auch klar warum: es hatte ein Relaunch stattgefunden. Kinderkrankheiten sind da normal, also wartete ich ein paar Tage. Es passierte aber nichts. Ein weiterer Anruf bestätigte den Verdacht. Wieder war ein freundlicher und hilfsbereiter Mensch am Apparat, der sich für die Probleme der Umstellung entschuldigte und um Geduld bat, bald würde sicher alles funktionieren. Aber natürlich kam es nicht so, der Link führte weiter zur 404-Seite.


Nach einigem Warten gab es im nächsten Anruf einen rettenden Ratschlag: ich sollte eine Email schreiben, auf die könnte man mit dem Link zur neuen NIE-Seite antworten, die zwar schon länger da wäre, aber über die Navigation nur gefunden werden könnte wenn Spanisch als Sprache eingestellt wäre und man genau wüsste auf welcher Seite man nach welchen Informationen filtern müsste (und über die Suchfunktion gar nicht, die wäre kaputt). Und siehe da, in der Antwortmail war der richtige Link.


Meine Theorie: dass ich dort endlich einen Termin buchen konnte lag daran, dass die meisten Antragsteller diese Seite bis heute nicht finden (oder kein Spanisch sprechen, nur in dieser Sprache gibt es sie). Etwa ein Dreivierteljahr nachdem ich zum ersten mal auf der Website des Konsulats war konnte ich mich auf den Weg machen und mit dem ausgefüllten Formular Solicitud de Número de Identidad de Extranjero (NIE) y Certificados (LO 4/2000 y RD 557/2011) meine Identifikationsnummer beantragen.


Natürlich ist das hier nur eine verkürzte Darstellung der Ereignisse, aus der einige Details weggelassen wurden um die Geschichte kurz zu halten. Aber ich wollte ja nicht nur meine Bürokratie-Erfahrungen beschreiben sondern noch etwas anderes machen. Stellen wir uns die Frage: an welcher Stelle wurden hier vermutlich die Fehler gemacht, durch die ich gefühlt in die Fänge der spanischen Inquisition geraten bin? Wohl an zu vielen, aber hier sind einige offensichtliche:


Der alte, zwar irgendwie funktionierende aber manuell-anachronistische Prozess wurde nicht rechtzeitig um einen neuen, digitalen ergänzt. Ein Klassiker. Es hätte genug Beispiele dafür gegeben wie der gestaltet werden kann und beim Corona-Ausbruch hätte man auf bestehende, online funktionierende Prozesse und Routinen zurückgreifen können. So musste es dann überhastet stattfinden. Ein schönes Beispiel für die Folgen von Modernisierungsrückständen.


Auch die erste digitale Lösung (vor dem Relaunch im Frühling) hatte ihre Probleme, mit der Überlastung der Kundenschnittstelle als vielleicht schwerstem. Ohne die komplette Verbuchung aller Tage der näheren Zukunft hätten die Antragsteller keine Motivation gehabt das System durch mehrfach-Termine auch dauerhaft zu überbuchen. Oder anders betrachtet: wer auch immer diese Prozesse designed hat, er hatte offensichtlich keine Vorstellung von den Verhaltensmustern seiner Kunden (siehe auch hier).


Apropos keine Vorstellung: die fehlte hier anscheinend in Bezug auf Anforderung, Entwicklung und Abnahme von Software. Unterschiedliche Features in unterschiedlichen Sprachen, schwerwiegende Bugs in banalsten Funktionen (wie dem Benutzen der Suchfunktion), fehlende Redirects der alten auf die neuen Internetadressen - ein häufiges Bild in Organisationen die noch nicht erkannt haben, dass sie zu wesentlichen Teilen aus Software bestehen und glauben sie billig outsourcen zu können.


Was in solchen Kontexten dazukommt: offensichtlich wurde beim Systemdesign nicht nur das Nutzer-Verhalten nicht berücksichtigt, auch die Expertise der eigenen Mitarbeiter wurde nicht einbezogen, weshalb diese trotz bestem Willen machtlos zusehen mussten wie ihre Kunden in kafkaesken Warte- und Nicht-Bearbeitungsschleifen festhingen, die ihnen trotz offensichtlicher Unzulänglichkeit von irgendwelchen Systemworkflows aufgezwungen wurden.


Gerade weil dieser Fall so eklatant ist eignet er sich gut um aufzuzeigen wie eigentlich wohlmeinende und hilfsbereite Organisationen in Verhaltensmuster abkippen können, die von ihren Kunden dann als Bürokratie wahrgenommen werden. Die Gründe liegen in der Regel in den Systemen, sowohl den sozialen als auch den technischen. Die Moral von der Geschichte kann daher nur lauten, regelmässig an denen zu arbeiten.

Donnerstag, 16. Dezember 2021

The agile Bookshelf: The (Delicate) Art of Bureaucracy

Bild: Pexels / Vlada Karpovic - Lizenz

Wer mal wieder nach einem Geschenk für irgendeinen im Dunstkreis der Agilität arbeitenden Menschen sucht kann dieses Buch ins Auge fassen: The (Delicate) Art of Bureaucracy von Mark Schwartz bringt das Kunststück fertig das auf den ersten Einruck unspannenste aller Themen - die Bürokratie - so aufzubereiten, dass es nicht nur informativ sondern sogar unterhaltsam ist. Und zahlreiche Bezüge zu agiler Produktentwicklung und DevOps gibt es obendrauf.


Was Schwartz schon früh unmissverständlich festellt ist, dass die Bürokratie durchaus ihren Zweck hat. Spätestens bei Grossunternehmen und -behörden mit tausenden von Mitarbeitern ist es unumgänglich Rollen zu vergeben, Verantwortlichkeiten festzuleen, Abläufe zu definieren und Hierarchien aufzubauen. Würde das unterbleiben wären diese Organisationen (genau wie die meisten kleineren) von Anfang an nicht handlungsfähig.


Auch wie es zu der Entartung dieser eigentlich sinnvollen Strukturen in Regel- und Dienstweg-Fetischismus kommt beschreibt er anschaulich, u.a. am Beispiel von Scrum Teams, die um ihre Sprints zu schützen dafür sorgen, dass Stakeholder nur noch einmal alle zwei Wochen mit ihnen interagieren können, und auch das nur in einem stark formalisierten Meeting-Format, dem Sprint Review. Derartige "versehentliche Bürokratisierungen" sind zwar gut gemeint, in den Auswirkungen aber schädlich.


Neben dem Scrum Framework (mit dessen Klassifizierung als Bürokratie er bei den meisten Scrum Mastern einen mittelschweren Schock auslösen dürfte) konzentriert er sich aber in erster Linie auf das was auch im Allgemeinverständnis als Bürokratie verstanden wird: die Arbeitswirklichkeit in Grossorganisationen, und hier speziell in der amerikanischen Einwanderungsbehörde, deren CIO er für einige Jahre gewesen ist und gegen deren rigide Regeln und Prozesse er in dieser Zeit ankämpfte.


Die Hintergründe für diese Auseinandersetzung dürften jedem der Politik und IT kennt bekannt vorkommen: auf der anderen Seite ein stetiger, durch äussere Umstände verursachter Handlungsdruck, auf der anderen Seite der verständliche Wunsch nach Sicherheit und Berechenbarkeit, der aber schnell zu Überregulierung führte. Um dieser zu entkommen entwickelte Schwartz drei Ansätze, den des Affen, den des Rasierers und den des Sumo-Ringers.


Der "Weg des Affen" ist inspieriert vom Chaos Monkey aus dem Chaos Engineering, einem Computer-Programm das ununterbrochen andere Programme Belastungsproben aussetzt um so Schwachstellen zu finden. In Analogie dazu besteht das Ziel darin, in den bürokratischen Regelungen Ausnahmen oder Regulierungslücken zu finden in denen man sich freier bewegen kann. Dass das nicht nur gegen sondern auch zusammen mit den Regelhütern stattfinden kann ergibt sich für ihn aus dem nächsten Ansatz.


Der "Weg des Rasierers" ist abgeleitet von Hanlon's Razor, einem Erkenntnismodell das von dem Grundsatz ausgeht nicht mit Bosheit erklären zu wollen was sich auch damit erklären lässt, dass dem Urheber die Konsequenzen seines Tuns nicht bewusst waren. Die daraus abgeleitete Prämisse ist, dass die Verfasser und Überwacher strikter Regeln gar kein Interesse daran haben andere zu behindern, man also durchaus vertrauensvoll mit ihnen zusammenarbeiten kann.


Der "Weg des Sumo-Ringers" basiert schliesslich auf einer Grundtechnik asiatischer Kampfsportarten, die daraus besteht die kinetische Energie eines stärkeren Gegners gegen ihn selbst zu verwenden. Auf die Bürokratiebekämpfung kann das übertragen werden indem man die Regulierung bestimmter Bereiche explizit untersagt und das zum Gegenstand regelmässiger Überprüfungen macht. Die Bürokratie richtet sich so gegen sich selbst und dämmt sich selbst ein.


Alleine diese Inhalte würden das Buch bereits lesenswert machen, es gibt aber noch eine zweite Ebene wegen der sich der Kauf lohnt, die erzählerische. Schwartz ist sehr gut darin trockene Sachverhalte durch Anekdoten und Analogien unterhaltsam zu machen, ausserdem zieht sich ein Feuerwerk an Zitaten und Referenzen durch das ganze Buch, von Franz Kafka und Herrman Melville über Napoleon, Georg Hegel, Karl Marx, Max Weber, Frederick Taylor und Peter Drucker bis hin zu Jeff Sutherland.


Wer diese grossen Denker und ihre Werke kennt wird übrigens schon ahnen auf welchen von ihnen ganz am Anfang und ganz am Ende verwiesen wird: auf Kafka, der mit "Der Prozess" den Bürokratie-Roman schlechthin geschrieben hat. Mark Schwartz hätte sich keine bessere Klammer für seine Ausführungen suchen können.

Montag, 5. Juli 2021

Transparenz im galaktischen Bauamt

Grafik: Wikimedia Commons / Nasa - Public Domain

Am Anfang von Douglas Adams Roman The Hitchhiker's Guide to the Galaxy steht die Zerstörung der Erde. Ausserirdische Raumschiffe erscheinen und kündigen die Sprengung des Planeten an um Platz für eine Hyperraum-Autobahn zu schaffen. Auf die entsetzten Bitten das nicht zu tun folgt nur der Hinweis, die Pläne hätten lang genug im Bauamt auf Alpha Centauri ausgelegen, jetzt sei es zu spät für Protest. Und diese Szene ist nicht nur der Beginn einer der bekanntesten literarischen Erzählungen überhaupt, sie ist auch eine beissende Kritik an der scheinbaren Transparenz von grossen Planungsprozessen.

There’s no point acting all surprised about it. All the planning charts and demolition orders have been on display in your local planning department in Alpha Centauri for fifty of your Earth years, so you’ve had plenty of time to lodge any formal complaint and it’s far too late to start making a fuss about it now.
The Hitchhiker's Guide to the Galaxy

Um mit dem offensichtlichsten zu beginnen: die Existenz des galaktischen Bauamts ist den von den geplanten Bauarbeiten betroffenen Menschen gar nicht bewusst, und damit auch nicht, dass man dort Pläne einsehen kann. Dies ist eine deutliche Parallele zu vielen grossen Bau-, Produktions- und internen Change-Vorhaben. Theoretisch hätte man ja wissen können wo die dokumentiert werden, weshalb eine ankündigende Kommunikation für nicht nötig gehalten wird.


Direkt daran anknüpfend kommt dazu, dass der Standort Alpha Centauri von der Erde aus nicht einfach zu erreichen ist. Auch hier kann man eine Gemeinsamkeit zu vielen Grossvorhaben erkennen. Man muss für Einsicht und Einspruch zwar nicht auf andere Planeten, der Zeitaufwand, die nötigen Prozesskenntnisse und die ggf. geforderten Bearbeitungsgebühren sind aber für viele Menschen ein Hindernis das so gross ist, dass es kaum noch überwindbar ist.


Die Kombination aus geringem Wissen und hohem Aufwand führt schliesslich zu einem weiteren Effekt: einem sehr starken Unterschied beim jeweils anfallenden Aufwand. Die planende Seite muss ihn nur einmal auf sich nehmen um die Dokumente zu hinterlegen, die von den Planungen betroffene Seite müsste das immer wieder tun um sicher zu sein, dass es keine Planänderungen gibt. Da in den meisten Fällen aber keine anliegen wäre das unwirtschaftlich und frustrierend, weswegen es meistens unterbleibt.


Der vermutlich weitreichendste Punkt ist aber einer der nicht sofort in Auge fällt: sowohl in Adams Roman als auch in den real existierenden Grossvorhaben fühlen sich die Planungsverantwortlichen absolut im Recht und sehen darum keine Notwendigkeit ihr Verhalten zu ändern. Aus ihrer Sicht wäre es die Holschuld der von den Vorhaben Betroffenen gewesen sich zu informieren ob und in welcher Weise sie betroffen sind. Tun diese das nicht sind sie selbst schuld.


Hier - und das ist entscheidend - liegt auch der Schlüssel für eine bessere Kommunikation: statt es durch zusätzliche Regeln und Standards scheinbar immer offensichtlicher zu machen wo die Betroffenen sich informieren können (was in der Realität aber nur zu noch mehr Bürokratie und Intransparenz führt) müssen die Planungsverantwortlichen auch für die proaktive Kommunikation verantwortlich sein. Was dabei zu beachten ist steht hier.

Montag, 8. August 2016

Konzern-Trolle

Bild: Flick/Jared - CC BY 2.0
Eine kleine Geschichte aus einer großen Firma: Ein Entwicklungteam kommt eines Morgens zur Arbeit und erkennt das eigene Büro nicht wieder: Sprint Board, Product Backlog, Burndown Chart, Velocity Chart und Impediment Backlog sind verschwunden, abgehängt von der Betriebsfeuerwehr wegen Verstoß gegen die Brandschutzvorschriften. Alle Proteste helfen nichts, Papierwände sind nicht erlaubt.

Eine zweite Geschichte aus einer großen Firma: Mitten im Sprint taucht ein Compliance Manager im Teamraum auf und fordert, dass ab sofort keine Daily Standups mehr durchgeführt werden. Zu berichten, was man gestern gemacht hat, würde der Betriebsvereinbarung widersprechen, die eine Erfassung der Arbeitsleistung auf Personenebene verbietet. Als darauf hingewiesen wird, dass Scrum dann nicht mehr funktioniert, sorgt der Manager dafür, dass diese Methode ganz verboten wird.

Eine dritte Geschichte aus einer großen Firma: Nach dem Inkrafttreten einer neuen Sicherheitsrichtlinie darf ein Scrum Team nicht mehr in einem Raum zusammensitzen. Ein Teil der Entwickler ist extern, der andere intern, wodurch sie zu verschiedenen Sicherheitsstufen gehören. Die Externen müssen sogar in ein anderes Gebäude umziehen und sich jedes einzelne Meeting im Hauptgebäude gesondert genehmigen lassen.

Diese drei Geschichten (und noch viele weitere mehr) haben sich genau so zugetragen. Sie gehen jeweils zurück auf einen Menschenschlag, für den sich der schöne Begriff des "Konzern-Trolls" eingebürgert hat. Konzern-Trolle sind Personen ausserhalb der eigentlichen Produkt-Entwicklung, die die Verantwortung für irgendeinen Prozess oder die Einhaltung irgendeiner Vorschrift haben. Über diese wird eifrig und eifersüchtig gewacht, und zwar auch dann, wenn anderen Mitarbeitern die Arbeit dadurch erschwert oder unmöglich gemacht wird. "Da kann man nicht machen" heisst es dann immer, "ich habe die Vorschrift nicht gemacht, ich sorge nur für ihre Einhaltung."

Von den normalen Prozessmanagern unterscheiden sich Konzerntrolle übrigens deutlich, und zwar durch ihre explizit destruktive Grundeinstellung. Fast alle Vorschriften auf die sie sich berufen ließen sich nämlich auch deutlich weniger rigoros auslegen, in einer Weise in der sie nicht mehr ein absolutes Hindernis für agiles und/oder produktives Arbeiten wären. Warum diese Menschen so destruktiv geworden sind wäre nochmal ein Thema für sich, aber selbst wenn man es wissen sollte wäre das nur bedingt hilfreich. Sie sind wie sie sind, was macht man jetzt mit ihnen?

Was ich in diesem Zusammenhang häufig als Lösungsansatz erlebt habe, ist die Holzhammer-Methode: das Problem wird zum Vorgesetzten des Trolls eskaliert, der diesen zu sich ins Büro zitiert, um ihm dort einen ordentlichen Anschiss zu verpassen. Kurzfristig ist das eine sehr effektive Lösung, da der Widerstand des Trolls auf diese Art sofort gebrochen werden kann. Nachhaltig ist es allerdings nicht, da er sich bei der nächsten Gelegenheit sofort wieder querstellen wird.

Zielführender finde ich den Ansatz, die Schmerzen dorthin zu verlagern, wo sie entstehen: sobald ein Konzern-Troll mit seiner Paragraphenreiterei beginnt, kann man ihm selbst einen Arbeitsauftrag geben. Er muss dann einen Weg erarbeiten und vorschlagen, der einerseits die Einhaltung seiner Vorschrift ermöglicht, auf der anderen Seite die Arbeitsprozesse der anderen nicht verlangsamen oder ineffektiv machen darf. Und so lange der nicht von allen Beteiligten akzeptiert ist, muss er wieder und wieder überarbeitet und neu vorgelegt werden. Mein Erfahrungswert: jeder Troll, der das einmal mitgemacht hat, wird sich in Zukunft deutlich zurückhalten.