Freitag, 14. Februar 2025

Flooding the Zone

Wer die politischen Ereignisse in den Vereinigten Staaten von Amerika verfolgt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit früher oder später an einem merkwürdigen Slogan vorbeikommen: Flooding the Zone (with Shit). Dahinter verbirgt sich ein Vorgehen, das genauso obszön ist, wie es sich anhört, das man aber auch in vielen Veränderungsvorhaben beobachten kann. Sobald man es sich bewusst gemacht hat, erkennt man es an vielen Stellen wieder.


Popularisiert worden ist das Flooding the Zone von Steve Bannon, dem ehemaligen Chief Strategist (obersten Berater) von Donald Trump. Angelehnt an eine Taktik aus Mannschaftssportarten, in denen darunter Überzahlspiel verstanden wird, erklärte er es zum Ziel, eine Diskussion derartig mit Themen zu überladen, dass es der Gegenseite nicht mehr möglich ist, sich auf eines davon zu konzentrieren um es auszudiskutieren oder zu widerlegen.


Da das Change Management in grossen Organisationen wesentlich aus dem Erklären, Hinterfragen und Ausdiskutieren von Veränderungsmassnahmen besteht, sind die Einsatzmöglichkeiten des Flooding the Zone in diesem Bereich offensichtlich. Differenziert betrachtet treten dabei verschiedene Dimensionen auf. Zum einen ist es von Bedeutung, mit welchem Ziel die Flutung stattfindet, des Weiteren womit und zuletzt ob es sich dabei um eine taktische oder eine strategische Massnahme handelt.


Das Ziel des Floodings kann sowohl das Vorantreiben als auch das Behindern von Veränderungen sein. Im ersten Fall findet es statt indem immer neue Ideen und Initiativen angekündigt oder thematisiert werden, im zweiten indem immer neue Bedenken, Argumente und Fragen gegen laufende oder kommende Vorhaben aufgeworfen werden. Die Absicht in beiden Fällen: die andere Seite soll aus dem Konzept gebracht werden, ständig reagieren müssen und dadurch sprunghaft und konfus erscheinen.


Bei der Frage womit die Überflutung stattfindet gibt es erneut zwei Möglichkeiten. Entweder mit realen (ggf. aber kleinteiligen oder redundanten) Bedenken, beliebt sind dabei solche, die einen (angeblich) drohenden Verlust von Qualität, Verlässlichkeit oder Rechtssicherheit zum Gegenstand haben. Alternativ kann man das tun, was Bannon Flooding the Zone with Shit nannte - absurd überspitzte, unsinnige oder falsche Argumente vorbringen, nur mit dem Ziel, der anderen Seite die Lust an dem Thema zu nehmen.


Ob ein Flooding taktischer oder strategischer Natur ist, entscheidet sich schliesslich am jeweiligen Zeit-Horizont. Eine taktische Überflutung findet kurzfristig im Rahmen eines Gesprächs, Meetings oder Mail-Verkehrs statt und hat das Ziel, sie ohne Ergebnis enden zu lassen. Eine strategische Überflutung findet langfristig und kontinuierlich statt und meistens auch gleichzeitig auf verschiedenen Hierarchie- oder Granularitätsebenen und in verschiedenen Organisationseinheiten. Ziel ist eine allgemeine Konfusion.


Gegenmassnahmen gegen das Flooding the Zone sind anstrengend aber möglich. Naheliegend ist es, dieses Verhalten anzusprechen (und damit wahrnehmbar zu machen), auf seine Destruktivität hinzuweisen und darum bitten, es zu unterlassen. Findet es dann trotzdem weiter statt greift die alte Weisheit, dass die Kultur eines Unternehmens vom schlechtesten Verhalten definiert wird, das vom Management zugelassen wird. Mit anderen Worten - es wird zu einem Führungs- oder Disziplinar-Thema.


Soll das Thema Team- oder Gruppen-intern gelöst werden, sind gemeinsame Vereinbarungen der beste Weg. Die können zum Beispiel darin bestehen, für Bedenken oder Änderungs-Anträge eigene Termine oder Agenda-Punkte zu schaffen und die anderen davon freizuhalten, oder zu Beginn eines Meetings die Agenda gemeinsam zu priorisieren (z.B. durch Dot-Voting), wodurch destruktive Agendapunkte gar nicht erst diskutiert werden, oder erst dann wenn die konstruktiven bereits geklärt sind.


Bei all diesen Überlegungen sollte man aber eine weitere nicht vergessen - nicht jeder, der regelmässig eine andere Meinung hat, betreibt gerade Flooding the Zone. Es kann auch sein, dass sich mit der Zeit quer durch eine gesamte  Organisation so viel dysfunktionales Verhalten herausgebildet hat, dass alle anderen mittlerweile abgestumpft sind und es nicht mehr wahrnehmen. Herauszufinden zu können was davon gerade der Fall ist, ist dann die entscheidende Kunst, an deren Beherrschung man arbeiten sollte.

Dienstag, 11. Februar 2025

10 Jahre

Das hier ist das zweite sich surreal anfühlende Jubiläum, das ich in relativ kurzer Zeit feiern darf. Vor etwa einem halben Jahr habe ich auf lean-agility.de den tausendsten Eintrag veröffentlicht, und ich war leicht erschlagen von dieser Menge. Heute geht es weiter - vor genau zehn Jahren habe ich mit Hallo Welt den ersten dieser Einträge veröffentlicht, und wieder fühle ich mich erschlagen, diesesmal von der Länge der seitdem vergangenen Zeit - ein Jahrzehnt!


"Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, so auch diesem hier. Mal sehen wieviel Zeit ich für diese kleine Internetpräsenz hier aufbringen werde." waren meine ersten Worte die ich hier geschrieben habe, und tatsächlich hatte ich Zweifel daran, dass ich ein Jahr lang in der Lage sein würde, regelmässig etwas zu veröffentlichen. Jetzt sind zehn Jahre vorbei, und ich habe im Schnitt zwei mal pro Woche auf den Publish-Button gdrückt. Wie gesagt, insgesamt mehr als tausend mal.


Im tausedsten Artikel habe ich geschrieben, dass mich im Rückblick fast am meisten erstaunt, dass mir nicht irgendwann die Themen ausgegangen sind, mittlerweile kann ich sagen, wie ich das geschafft habe. Sobald ich ein Thema interessant oder amüsant finde (was oft genug vorkommt) speichere ich es bewusst oder unbewusst im Kopf ab und mache bei Gelegenheit einen ersten, stichpunktartigen Entwurf. Von denen fliegen im CMS dieser Seite erstaunlich viele herum - zur Zeit sind es ca. 80.


Und sobald ich irgendwann etwas Leerlauf habe, Zeit totschlagen oder mich ablenken will, habe ich etwas zu tun - ich schaue, was alles da ist, und wenn mir zu einem Thema etwas einfällt schreibe ich einige Sätze dazu. Aus diesen kurzen Kreativ-Phasen (die manchmal nur wenige Minuten lang sind) entsteht dann nach und nach mein Content (natürlich gibt es auch Momente, in denen ich spontan einen ganzen Text herunterschreibe, aber das ist im Vergleich seltener der Fall).


Es gibt in der Psychologie die Theorie, dass das Aufschreiben von Gedanken dazu führt, dass man diese besser strukturieren, einordnen, verarbeiten und verinnerlichen kann. Wenn das stimmen sollte, habe ich mir seit 2015 mit dieser Website ein Werkzeug geschaffen, dass mir zu einem differenzierten und reflektierten Blick auf meine Arbeitswelt verhilft. Nicht das schlechteste für jemaden, zu dessen beruflichem Alltag es gehört, in technischen und sozialen Systemen Muster und Dynamiken zu erkennen.


In gewisser Weise ist der Zauber des Anfangs geblieben. Mal sehen wie lange noch (zur Zeit ist aber noch kein Ende absehbar).

Donnerstag, 6. Februar 2025

The Cult of the agile Amateur

Von Zeit zu Zeit lohnt es sich, Bücher heranzuziehen die zwar zu Zeiten des Aufschwungs der agilen Methoden verfasst wurden, sich aber nicht mit ihnen im engeren Sinn befassen, sondern breitere gesellschaftliche Trends zum Gegenstand haben. Da die agile Bewegung Teil der Gesellschaft ist, bietet diese Art der Betrachtung einen interessanten Blickwinkel: ist auch sie von diesen Trends beeinflusst worden, und wenn ja wie? Ein Buch mit dem man derartig vorgehen kann ist The Cult of the Amateur.


Verfasst wurde es im Jahr 2007 vom britisch-amerikanischen Unternehmer und Schriftsteller Andrew Keen. Vordergründig richtete es sich gegen das in dieser Zeit aufkommende partizipative Internet, damals Web 2.0 genannt (heute würde man von User generated Content sprechen). Auf einer grösseren Ebene handelte es sich aber gleichzeitig um eine harte Kritik an der zu dieser Zeit häufigen Verklärung unwissenschaftlicher und autodidaktischer, dafür aber meinungsstarker Diskussionsteilnehmer.


Zum Kontext: im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends ist es zu einer nie zuvor dagewesenen Demokratisierung des Zugangs einzelner Personen zur Öffentlichkeit gekommen. Services wie Wordpress, Youtube, Twitter, Facebook und Wikipedia erlaubten es jedem Menschen, Beiträge zu jedem beliebigen Thema zu veröffentlichen und damit potentiell den allgemeinen Diskurs zu diesem Thema mitzugestalten. Aus demokratietheoretischer Sicht eine grossartige Entwicklung.


Was Keen an dieser Entwicklung kritisierte, war, dass durch den Wegfall der bisherigen Verlags- und Sender-Oligopole nicht nur die Zugangsbarrieren wegfielen, sondern auch die mit ihnen verbundenen Qualitätssicherungs-Mechanismen. Während vorher vorwiegend Inhalte eine grosse Öffentlichkeit erreichten, die gut begründet, in sich konsistent und überprüfbar waren, verschob sich das plötzlich zu solchen, die auf starken Einzelmeinungen zu aktuellen Themen basierten.


Und an dieser Stelle kommen wir zurück zur agilen Bewegung. Selbst wenn viele der damals noch neuen agilen Frameworks basierend auf Praxiserfahrungen entstanden waren, waren die jeweiligen Entstehungsbedingungen so überschaubar und einzelfallspezifisch, dass sich nicht klar sagen liess, was Kausalität war und was Korrelation. Um ein bekanntes Beispiel zu nennen - Extreme Programming (XP) basierte ursprünglich auf den Erfahrungen eines einzigen Teams, das nur wenige Jahre lang bestand.1


Dass dieser anfangs eher überschaubare Anwendungsfall es zeitweise schaffte, zum populärsten agilen Famework zu werden,2 lag wesentlich an den zuvor erwähnten demokratisierten Zugängen zur Öffentlichkeit, im Fall von XP in Form von Wikis wie wiki.c2.com oder wiki.org, in denen Praktiker und Enthusiasten in selbst gewähltem Umfang und Detailgrad Inhalte veröffentlichen konnten, die weltweit von jedem Inhaber eines internetfähigen Computers gelesen werden konnten.3


In diesem Fall hat die Geschichte zwar ein Happy End, da sich XP mit der Zeit in der Praxis bewährte, in anderen Fällen war der Ausgang aber nicht ganz so gut - dass viele Versuche agile Arbeitsweisen einzuführen kläglich gescheitert sind, liegt ganz wesentlich daran, dass das dafür gewählte Vorgehen lediglich auf starken Meinungen und anekdotischer Evidenz beruhten, verfälscht durch Survivor Biases, Hindsight Biases und ähnliche Phänomene.


Zu den klassischen, immer wieder auftretenden Fehlern gehören dabei Über-Simplifizierung ("man muss nur alle Mitarbeiter schulen"), Personalisierung ("die Personen X, Y und Z wollen sich nicht ändern"), Blaupausen-Gläubigkeit ("Spotify hat das auch so gemacht"), Confirmation Bias ("ich habe schon immer gesagt: einfach machen! Endlich sehen das jetzt alle so.") und Ausblendung von Zusammenhängen ("warum reden wir hier über Budgetierung, wir wollten doch über die agile Transformation sprechen").


Dabei ist keiner dieser Fehler unvermeidbar, in der psychologischen und betriebswirtschaftlichen Forschung und Literatur werden sie seit über hundert Jahren behandelt, einschliesslich der Möglichkeiten sie zu erkennen und zu verhindern. Wer eine wissenschaftliche oder praktische Ausbildung im Produkt- oder Projektmanagement durchlaufen hat, wird sie mit grosser Wahrscheinlichkeit vermeiden oder abschwächen können.4


Dass eine Kenntnis dieser Forschungsergebnisse und Fachliteraturen in agilen Transitionenzu selten erwartet wird, liegt schliesslich an etwas, das man in Anlehnung an Keen als "Cult of the agile Amateur" bezeichnen könnte: der Verklärung unwissenschaftlicher und autodidaktischer, dafür aber meinungsstarker Scrum Master und Agile Coaches als "Organisationsrebellen" oder Inhaber eines "agilen Mindsets", deren Expertise keiner Valisierung bedarf.


Um Missverständnisse zu vermeiden: dieser Cult of the agile Amateur ist nicht in den verschiedenen agilen Frameworks selbst verankert, sondern ist eher aus den oben erwähnten Besonderheiten der Entstehungszeit zu erklären. Und überall dort wo agile Transitionen langfristig erfolgreich gewesen sind, ist er entweder von Anfang an vermieden worden oder er wurde mit der Zeit erkannt und nach und nach eingedämmt und beseitigt.


Wie eine solche Gegenbewegung vor sich gehen kann ist dann wieder von Einzelfall zu Einzelfall unterschiedlich, so dass es dafür kein Patentrezept gibt (ein empirisch-analytisches Vorgehen ist aber ein guter Startpunkt). Lediglich eines lässt sich mit Sicherheit sagen: was nur in den allerseltensten Fällen helfen wird sind agile Zertifizierungen.



1Zur Klarstellung: XP ist grossartig, aber das wissen wir heute, damals liess sich das noch nicht absehen
2Um das Jahr 2000, es wurde erst später von Scrum überholt
3Wir können uns heute nicht mehr vorstellen, wie revolutionär das damals war
4Natürlich treten dafür andere Risiken auf, z.B. Methodismus

Montag, 3. Februar 2025

Larman's Law (V)

Bild: Pexels / Tara Winstead - Lizenz

Mit der Zeit haben sich viele Menschen Gedanken über die ungeschriebenen Gesetze der Organisationsentwicklung gemacht und versucht sie (auf manchmal seriöse, manchmal aber auch eher zynische Art) auf Papier zu bringen. Besonders produktiv war dabei Craig Larman, der Erfinder von LeSS, der insgesamt fünf Gesetze verfasst hat, die er Larman's Laws of Organizational Behavior genannt hat. Heute soll es hier um das Fünfte von ihnen gehen. Es lautet:


In large established orgs culture follows structure. And in tiny young orgs, structure follows culture.


Zum Hintergrund: Larman verfasste dieses Gesetz als Reaktion auf die in der agilen Community verbreitete Ansicht, dass Veränderungsvorhaben grundsätzlich  damit beginnen müssten, die Kultur zu verändern. Da diese bestimmend für alles weitere wäre, würden alle weiteren Veränderungen mehr oder weniger von selbst folgen. Diese Ansicht hält er (zumindest in grösseren Organisationen) für nicht zutreffend und realitätsfern.


Die von Larman (und vielen Anderen) beobachtete Realität ist eine andere. In ihr ist die Unternehmenskultur (also die Summe aller informellen Erwartungen, Glaubenssätze, Deutungsmuster, etc.) stark von der Formalstruktur beeinfusst, bzw. eine Reaktion auf sie (zur Formalstruktur gehören Regel, Hierarchien, Anweisungen, o.A.). Ein einfaches Beispiel: in einem Unternehmen in dem alles zentral und geheim entschieden wird, wird es kaum zu einer partizipativen Mitmach-Kultur kommen.


In einem derartigen Umfeld haben Veränderungsvorhaben daher eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit, wenn sie mit strukturellen Veränderungen beginnen, z.B. mit der Delegation von Entscheidungen auf untere Hierarchieebenen, wodurch eine passive Gehorsams-Kultur dort nicht mehr möglich ist. Ob die dadurch herbeigeführten Kulturveränderungen die erhofften sind oder ob und wie nachgesteuert werden muss, ist dann nochmal ein separates Thema, das weit in das Change Management hineinführt.


Nun zum umgekehrten Fall: es gibt einige Firmen in denen es doch so ist, dass die Unternehmenskultur die Unternehmensstruktur definiert. Wie kann das sein? Larman gibt die Antwort, indem er darauf verweist, dass das vor allem in kleinen und jungen Organisationen gegeben ist. In derartigen Umgebungen sind Strukturen meistens nur rudimentär vorhanden (da noch nicht nötig) und verfestigen sich erst mit der Zeit. Diese Verfestigung bildet dann in der Regel die Kultur ab.


Diese Unterscheidung lohnt es, im Hinterkopf behalten zu werden: in grossen und alten Unternehmen überschreibt die Struktur die Kultur, in kleinen und jungen Unternehmen überschreibt die Kultur die Struktur. Wie immer mit Abstufungen und Ausnahmen, aber eine brauchbare Fausregel, auf die man den Beginn eines Veränderungsvorhaben aufsetzten kann. Und umgekehrt gibt sie einem eine klare Idee mit, wie man es besser nicht versuchen sollte.