Der Change-Prozess als bewusste Machtkampf-Arena
Eine häufige Beschwerde bei Veränderungsvorhaben in grossen Organisationen ist, dass unverhältnismässig viel Zeit in Meetings aller Art verloren geht. Workshop folgt auf Workshop, Steuerungskreis auf Steuerungskreis, Entscheidungsrunde auf Entscheidungsrunde - nur damit am Ende ein Ergebnis steht, für dessen Festlegung bereits ganz am Anfang alle Informationen zur Verfügung gestanden hätten. Warum tut man sich das an?
Eine interessante Erklärung dafür bietet der Soziologie-Professor Stefan Kühl im wie immer hörenswerten Podcast "Der ganz formale Wahnsinn". Ihm zufolge dienen derartiger Meetings nicht nur der rationalen Entscheidungsfindung, sondern auch dem Austragen von Machtkämpfen, deren Stattfinden zu derartigen Anlässen nicht nur möglich, sondern sogar gewünscht ist, die dort aber nach Möglichkeit auch abgeschlossen werden sollen - etwas, was ich mehrfach genau so erlebt habe.
Um das zu verstehen holen wir zunächst etwas aus: Veränderungen führen in sehr vielen Fällen dazu, dass es Gewinner und Verlierer gibt. Ein Abbau von Hierarchien reduziert Bürokratie, verknappt aber dafür die Karriereoptionen; die Schaffung von Spezialistenlaufbahnen ermöglicht individuellen Statusgewinn, das aber auf Kosten der Gleichbehandlung in Teams; etc. etc. Das ist meistens schon früh erkennbar und löst bei den negativ Betroffenen die erwartbaren Widerstände aus.
Werden Veränderungen jetzt (zu) schnell beschlossen, finden diese Widerstände im Rahmen der bereits neu geordneten Organisation statt, was diese von Beginn an lähmen kann. Gelingt es dagegen, die Widerstände (und die Anstrengungen zu ihrer Überwindung) vor die Entscheidung zur Neuordnung zu legen, und zwar so, dass die Gewinnerseite des dadurch entstehende Machtkampfes diese Entscheidung prägen darf, dann kann die Startphase der neuen Organisation weitgehend ungestört beginnen.
Die verschiedenen Workshops, Steuerungskreise und Entscheidungsrunden bilden in dieser Betrachtungsweise eine Arena, in der die verschiedenen Parteien vor den Augen der restlichen Organisation gegeneinander antreten, einzelne Auseinandersetzungen gewinnen, andere verlieren, nach und nach ermüden, neue Kraft schöpfen, Bündnisse schliessen und Rückzugsgefechte führen, bis letztendlich eindeutig klar ist, wer sich in welchem Bereich durchgesetzt hat.
Am Ende dieser Vorgänge stehen gleich mehrere Ergebnistypen: zum einen die Entscheidungen der Machtkämpfe, und mit ihnen auch die über das Ausmass und die Weiterführung der Veränderungen, zum anderen aber auch eine Legitimation und Delegitimation von Standpunkten. Die Gewinner können sich zukünftig auf den langen und ausführlichen Entscheidungsprozess berufen, den Verlierern kann vorgehalten werden, dass sie trotz ausreichender Zeit keine Mehrheiten für ihre Ideen finden konnten.
Was mit dieser Art einer Change-Herbeiführung verbunden ist, ist natürlich das Risiko einer hochemotionalen Konfliktaustragung, da jede Seite befürchten muss, nach einer Niederlage auf unabsehbare Zeit kein Gehör für Ihr Anliegen mehr zu finden. Schlimmstenfalls kann sogar das Gegenteil des Angestrebten erreicht werden, einer belasteter statt eines unbelasteten Neustarts, nur mit einer Belastung durch Verbitterung und Verletzungen statt durch weitergehende Widerstände.
Um das zu vermeiden kann es sich anbieten, Veränderungen nicht in seltenen, grossen Programmen durchzuführen, sondern in einer stetigen Reihe von kleineren Vorhaben. Der Arena-Effekt verschwindet dadurch zwar nicht, dadurch dass die Auseinandersetzungen kleiner und reversibler werden, gehen aber die zur Schau Stellung und die potentielle Emotionalität zurück. Und als ein Seiteneffekt sind in jedem einzelnen Fall auch weniger Meetings nötig, was wiederum zu weniger Beschwerden führt.