Donnerstag, 2. Juni 2016

Erziehung zur Normverletzung

Bild: Wikimedia Commons/Indeedous - CC BY 2.0
Vor kurzem hatte ich die Ehre eine Rede von Gregor Gysi anhören zu dürfen und kurz neben ihm zu sitzen. Wie viele Politiker-Reden war sie vom Vortrag her brilliant, vom Inhalt her aber etwas konfus (ich glaube, dass dahinter etwas steckt, was man als "agiles Reden halten" bezeichnen könnte. Das wäre ein Thema für sich). Was bei mir hängen geblieben ist, ist vor allem eine Passage. Sie bezieht sich zwar auf die Sexualmoral der katholischen Kirche, ist aber gut auf Unternehmensführung und Projekt-, bzw. Prozessmanagement übertragbar.

Im Kern erzählte Gysi von einer Unterhaltung mit katholischen Geistlichen, die er mit folgenden Argumenten konfrontierte: Wenn man Sex als etwas ansieht, dass nur zum Zweck des Kinder Zeugens erlaubt ist, dann reduziert sich die Anzahl der im gesamten Leben zulässigen Geschlechtsakte auf eine niedrige zweistellige Anzahl. Das ist natürlich völlig unrealistisch, den natürlichen Trieben folgend ist die Anzahl viel höher, was die Kirche auch weiß. Wenn sie trotzdem an ihren Vorschriften festhält nimmt sie bewusst in Kauf, dass praktisch jeder und jede zigfach dagegen verstößt. Gysi dachte diesen Gedankengang aber noch weiter: wenn die Kirche sehenden Auges dafür sorgt, dass die Menschen permanent gegen eine ihrer zentralen Regeln verstoßen, dann ist das nichts anderes als eine "Erziehung zur Normverletzung". Und diese hat zur Folge, dass der Respekt vor Regeln und Normen grundsätzlich beschädigt wird. Die Konsequenz ist, dass auch andere nicht mehr eingehalten werden.

In Unternehmen, vor allem in großen, kann man genau dieses Phänomen immer wieder vorfinden. Es werden Regeln aufgestellt von denen klar ist, dass sie gar nicht befolgt werden können, weshalb sie von den Mitarbeitern ständig umgangen werden. Die Folge ist dann irgendwann eine konsequente Ablehnung nahezu aller Regeln durch die Belegschaft, die strukturiertes Vorgehen jeglicher Form schwierig bis unmöglich macht (ich hatte schonmal unter dem Namen "Konzern-Anarchismus" etwas dazu geschrieben). Alleine das sollte ein ausreichender Grund sein es sich dreimal zu überlegen, bevor vorschnell irgendwelche Regeln eingeführt werden. Im Zweifel bewirken sie nämlich das Gegenteil dessen was sie bewirken sollen.

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