Die Wasserfall-Populisten
Bild: Wikimedia Commons/Nathan Keirn - CC BY-SA 2.0 |
Das Jahr 2016 dürfte rückblickend als das Jahr der Populisten in die Geschichte eingehen. Die AfD in Deutschland, die FPÖ in Österreich, die UKIP in England, die M5S in Italien und die Trump-Kampagne in Amerika waren bei den Wahlen ausserordentlich erfolgreich. Warum das so ist wird kontrovers diskutiert, eine allgemein akzeptierte Erklärung dafür gibt es aber noch nicht. Einer der interessanteren Ansätze kommt von Michael Seemann, der im Herbst einen Artikel veröffentlichte in dem er die populistischen Bewegungen als Reaktion auf das Entstehen einer neuen Sozialen Klasse deutete:
"Es gibt heute eine globalisierte Klasse der Informationsarbeiter, der die meisten von uns angehören und die viel homogener und mächtiger ist, als sie denkt. Es sind gut gebildete, tendenziell eher junge Menschen, die sich kulturell zunehmend global orientieren."Seemann sieht in dieser Klasse eine Gruppe die sich verstreut über Landesgrenzen und politische Lager erstreckt und ihre Gemeinsamkeit darin findet, dass sie neue (fortschrittliche) Normen und Standards aufstellt, während sie gleichzeitig die traditionellen gesellschaftlichen Kategorien als überkommen und rückständig ablehnt. Da das offen und sogar offensiv stattfindet kollidiert es mit den Haltungen der eher konservativen Menschen. Noch einmal Seemann:
Und das merken die anderen, die kulturell Abgehängten. Sie merken, dass uns ihre Welt zu klein geworden ist, dass wir uns moralisch überlegen fühlen und dass wir nach größerem streben. Vor allem merken sie, dass wir dabei erfolgreich sind, dass wir auf diesem Weg die Standards definieren, die nach und nach auch an sie selbst angelegt werden.Gegen dieses Bedeutung verlieren und abgehängt werden rebellieren die Menschen. Sie wollen nicht, dass es dazu kommt, stattdessen soll es wieder so sicher und überschaubar werden wie frührer. Wenn ein Populist ihnen das verspricht wird er gewählt. Und an dieser Stelle können wir den Bogen zurück zur IT schlagen.
Dreissig Jahre nach dem New New Product Development Game und fünfzehn Jahre nach dem agilen Manifest sind agile Methoden zwar noch nicht überall umgesetzt, es gilt aber bis hinauf in die Management-Ebenen als ausgemacht, dass ihnen die Zukunft gehört. Fast jeder will agil sein, will nach Scrum arbeiten, will "so sein wie Google und Netflix", redet von Backlogs, Standups, Disruption und flachen Hierarchien. Wer weiterhin Releases bauen, Lead Developer werden oder Lastenhefte abarbeiten will gilt in vielen Unternehmen als gestrig, verschnarcht und potentiell verzichtbar.
Das klingt übertrieben? Ist es aber nicht. Mittlere Manager müssen sich anhören, dass sie im Grunde Störfaktoren sind (z.B. hier) Mitarbeiter werden plötzlich in Großraumbüros verfrachtet, selbst wenn sie sich über die Jahre an das Arbeiten in stillen Einzelzimmern gewöhnt haben, manuellen Testern wird die berufliche Existenzberechtigung abgesprochen, älteren Entwicklern wird ins Gesicht gesagt, dass ihre Erfahrung nicht viel wert ist, Architekten und Testverantwortlichen wird angekündigt, dass sie bald zu normalen Teammitgliedern degradiert werden. Allen wird klargemacht: wenn die agile Transition zu ihnen kommt wird sie von den alten Hierarchien und Karrierepfaden nicht viel übriglassen.
Die Parallelen zur politischen Debatte sind offensichtlich: die agilen Entwickler und Manager bilden die neue Länder- und branchenübergreifende Klasse, der zugeschrieben wird die Zukunft zu verkörpern, den "traditionellen" Fachkräfte wird das Gefühl vermittelt langsam aber unaufhaltsam abgehängt zu werden. Auch die Rolle des populistischen Verführers lässt sich schnell finden: Es ist der Manager, Berater oder Betriebsrat, der verkündet, dass man zum alten Wasserfall-Vorgehen zurückkehren und trotzdem wettbewerbsfähig bleiben könnte. Dass das mit den heutigen Rahmenbedingungen immer schwerer wird (und z.T. bereits jetzt nicht mehr möglich ist) wird dabei ignoriert. Stattdessen wird genau das geboten was den Populismus ausmacht: eine (scheinbar) einfache Lösung für ein komplexes Problem.
Einen Ausweg aus dieser Situation zu finden ist in der IT genauso schwierig wie in der Politik. Wer sich einmal auf die populistische Versuchung eingelassen hat ist nur noch schwer zu erreichen, igelt sich in seinem Weltbild ein, verdrängt alles was nicht dazu passt und misstraut jedem der etwas anderes sagt. Verständlich, die Erkenntnis, dass der eigene Status und Karrierepfad gerade von einer schöpferischen Zerstörung demoliert werden ist etwas was man gerne verdrängen möchte.
An dieser Stelle enden allerdings die Gemeinsamkeiten von Software-Entwicklung und Politik. Man kann nicht einfach einen Donald Trump zum IT-Präsidenten wählen oder per IT-Exit aus der agilen Transition der Branche austreten. Beziehungsweise: man kann schon, wird dann aber das Schicksal von Nokia, Kodak und MySpace teilen. Das behutsam zu vermitteln und den "einfachen Weg zurück" als Populismus zu enttarnen ist im Moment eine zentrale Change Management-Aufgabe.