Montag, 2. Oktober 2017

Die Zertifizierungs-Tretmühle

Bild: Freegreatpicture / Maxpixel - CC0 1.0
Angekündigt hatte es sich schon im letzten Jahr, seit einigen Tagen steht es auf der Website der Scrum Alliance: die angebotenen Zertifizierungen ändern sich, es werden weitere dazukommen. Die drei Basis-Zertifizierungen für Scrum Master, Product Owner und Developer werden ergänzt um ein Advanced-Level, der bisher rollenübergreifende Scrum Professional wird ebenfalls auf die drei Rollen aufgespalten. Aus bisher vier Zertifizierungen werden so neun1. Und obwohl ich verstehe warum das so kommt glaube ich nicht, dass das eine gute Entwicklung ist.

Von der geplanten Erweiterung des Zertifizierungsspektrums habe ich zum ersten mal letztes Jahr auf dem Global Scrum Gathering Munich gehört. In den dort stattgefundenen Diskussionen war der Konsens der, dass die bisherigen Zertifizierungen über die Jahre weitgehend entwertet worden sind. In manchen Unternehmen wurde das gesamte mittlere Management geschlossen in die Zertifizierungslehrgänge geschickt, zahllose Freelancer kleben sich das Siegel auf den Lebenslauf um ihre Kunden zu beeindrucken und Schulungsanbieter haben in den dazugehörigen Kursen eine Goldgrube entdeckt.

Bedingt durch diese Inflation beweisen die Zertifikate heute eigentlich nur noch zwei Dinge: a) ihr Inhaber hatte genug Geld für die Prüfungsgebühr und b) er ist in der Lage eine überschaubare Menge an Lernstoff auswendig zu lernen. Das zu ändern und die Zertifikate durch mehr Stoff und mehr Praxiserfahrung aufzuwerten ist zunächst ein nachvollziehbares Anliegen, aber selbst wenn es von der Zielgruppe angenommen werden sollte ist für mich fraglich ob das gesteckte Ziel damit erreicht werden wird.

In den Gesellschaftswissenschaften gibt es den Begriff der Euphemismus-Tretmühle, der besagt, dass jedes neutrale oder positive Wort mit dem man die Benutzung eines negativ geprägten Begriffs umgehen will irgendwann die negative Konnotation seines Vorgängerausdrucks annehmen wird, solange sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht verändern. Analog dazu glaube ich, dass wir uns gerade im Prozess einer "Zertifizierungs-Tretmühle" befinden.

Demnach findet im Moment Folgendes statt: eine Zertifizierung hat durch massenhafte Verteilung ihre Aussagekraft verloren und wird darum um eine "höhere Stufe" ergänzt. Auch die erleidet absehbar das selbe Schicksal, weshalb zur "Aufwertung" noch eine Stufe dazukommt, etc. Bereits nach kurzer Zeit wird die verästelte Hierarchie der entstehenden Zertifikate so groß, dass die meisten Menschen den Überblick verlieren2. Abgesehen von wenigen Experten weiss keiner mehr was sich im Einzelfall dahinter verbirgt.

Der Effekt ist, dass die Menschen sich am Ende nur noch genervt abwenden wenn das Gespräch auf dieses Thema kommt. Noch einmal eine Parallele zur Euphemismus-Tretmühle: ausserhalb winziger Milieus gilt heute jeder der von "LSBTTIQ-Menschen", "Professorx" oder "Person mit Migrationshintergrund ohne eigene Migrationserfahrung" spricht als weltfremder Wunderling mit dem Unterhaltung eher anstrengend werden. Wer zukünftig den Scrum Master in CSM, A-CSM und CSP-SM unterteilen will dürfte schnell in der selben Schublade landen, und das nicht einmal völlig zu Unrecht.

Nun ja. Wie man hier im Rheinland sagt: Et es wie et es. Mal sehen wie die Sache ausgeht.

1Dazu kommen die vor kurzem eingeführten Trainer-, Coach- und Leader-Zertifikate, die nochmal ein Thema für sich sind.
2Ich glaube, dass das gerade stattfindet.

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