Freitag, 5. Oktober 2018

Red Flag Laws

Bild: Wikimedia Commons / Santeri Viinamäki - CC BY-SA 4.0
Zu den vermutlich skurrilsten gesetzlichen Regelungen der Technikgeschichte gehören die so genannten Red Flag Laws, die im späten 19. Jahrhundert in Grossbritannien und Teilen der USA erlassen wurden. In ihnen wurde geregelt, dass jedem motorisierten Fahrzeug eine Aufsichtsperson vorauslaufen und dabei eine rote Fahne schwenken musste. Das zu dieser Zeit gerade erst erfundene Auto, dessen Stärke ja gerade die Geschwindigkeit war, wurde damit praktisch unbrauchbar.

Dass diese Gesetze erlassen wurden hatte natürlich einen Grund: die Parlamente befürchteten, dass von motorisierten Fahrzeugen eine erhöhte Unfallgefahr ausgehen könnte. Anders als ein Pferd würden sie schliesslich nicht von sich aus vor einem Hindernis stehen bleiben. Als die Erfahrungen zeigten, dass diese Sorge unberechtigt war, war der Schaden bereits angerichtet - andere Länder hatten sich einen technischen und wirtschaftlichen Vorsprung erarbeitet.

Das Problem der Red Flag Laws ist, dass sie zwar auf den ersten Blick wie ein Anachronismus aus einer längst vergangenen Zeit wirken, auf den zweiten aber hochaktuell sind. Der Unterschied ist nur, dass es sich heute nicht mehr um Autos handelt, die aus Sorge vor Unkontrollierbarkeit überreguliert werden, sondern um andere Aspekte des technischen oder organisatorischen Fortschritts.

Gerade in den Konstellationen agiler Transitionen sind gut gemeinte aber in ihren Auswirkungen verheerende Regulierungen häufig. Ein Product Owner der alleine Produktentscheidungen treffen darf? Den kontrolliert man besser durch ein Lenkungsgremium. Automatisierte Tests und Deployments? Nur wenn jeder von ihnen durch einen Menschen manuell überprüft wurde. Selbstorganisierte Teams wählen ihre Tools selber aus? Ja, aber nur aus denen die vorher von einer zentralen Stelle zertifiziert wurden.

Die Folgen sind die gleichen wie damals im 19. Jahrhundert: zunächst fühlt sich die Veränderung besser (weil beherrschbarer) an, aber irgendwann dämmert die Erkenntnis, dass man sich ohne Not gerade die Potentiale verbaut hat wegen derer die neuen Methoden und Techniken überhaupt eingeführt wurden. Und währenddessen sind die Wettbewerber mit weniger Berührungsängsten schon längst vorbeigezogen und haben Marktanteile übernommen.

Nach Red Flag Laws im eigenen Unternehmen zu suchen und sie abzuschaffen kann ein schmerzhafter Prozess sein, da es fast immer bedeutet, dass man sich eingestehen muss, aus bestem Willen heraus Mist gebaut zu haben. Das nicht zu tun wäre aber noch schlimmer, was man sich an einem einfachen Beispiel vor Augen führen kann: wie wäre es wohl heute um Grossbritannien bestellt wenn noch immer vor jedem Auto ein Mensch mit eine einer roten Fahne herlaufen müsste?

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