Donnerstag, 7. Mai 2020

Agile Coach

Bild: Pexels / Fauxels - Lizenz
Zu den einschneidensten Veränderungen die die agile Bewegung in den letzten Jahren durchlaufen hat gehört die Einführung einer Rolle die in keinem der gängigen Frameworks zu finden ist, die aber trotzdem zu hoher Prominenz und Bedeutung aufgestiegen ist. Die Rede ist vom Agile Coach. Während er als Begriff nahezu jedem der in irgendeinem agilen Kontext arbeitet bekannt sein dürfte ist aber eine auch nur halbwegs verbreitete Rollenbeschreibung nicht existent. Man kann sich also fragen - was für ein Beruf ist das eigentlich?

Um mit dem Naheliegendsten anzufangen: in den Ursprungs-Dokumenten der Agilität ist er nicht zu finden. Weder im Manifest für agile Softwareentwicklung von 2005 noch in den dahinterliegenden Prinzipien taucht irgendeine Rolle auf und auch Agile Coaching als Tätigkeit wird dort nicht erwähnt. Grundsätzlich scheint der Begriff des Agile Coach damals völlig unbekannt gewesen zu sein, wie man aus den Statistiken von Google Trends ablesen kann. Erst seit Herbst 2007 wird er in erkennenswertem Ausmass gesucht und erst seit ca. 2016 in grösserem Umfang.

Quelle: Google Trends
Was dagegen schon damals vorhanden war, war das Selbstverständnis mehrerer Verfasser als Coach. Arie van Bennekum bezeichnete sich auf der Autorenseite des Agilen Manifestes als "Facilitator and Coach", Ron Jeffries als "the first Extreme Programming Coach" und Mike Beedle nannte als seine Spezialisierung "to coach companies". Wie sich aus diesem Verständnis (und dessen Übernahme durch andere) die Bezeichnung "Agile Coach" entwickeln konnte ist nachvollziehbar. Es bleibt aber die Frage: was ist damit gemeint?

Ein kurzer historischer Exkurs: die ursprüngliche Bedeutung von Coach ist "von Zugtieren gezogener Wagen" und leitet sich genau wie das deutsche Wort "Kutsche" von der ungarischen Stadt Kocs ab, dem ehemals wichtigsten Standort des europäischen Kutschen- und Wagenbaus. Basierend darauf wurde es im 19. Jahrhundert an der Universität von Oxford und später an anderen Hochschulen zu einem Slang-Ausdruck für einen Tutor oder Repetitor, also jemanden der einen "durch die Prüfungen zieht". Wiederum abgeleitet davon wurden Coach-Berufe in verschiedenen Arbeitsgebieten ehemaliger Studenten: im Sport, im Gesundheitswesen, in der Kunst oder in der persönlichen Weiterentwicklung.

Was alle diese Berufe gemeinsam haben ist die externe Positionierung des Coaches. Er ist kein Teil der von ihm betreuten Gruppe, Mannschaft oder Organisationseinheit, nimmt nicht an deren Tätigkeit teil und leitet sie nicht an. Er ist nicht verantwortlich für die Genehmigung oder Abnahme eines Arbeitsergebnisses, ist kein Arbeitgeber, Kunde oder Käufer. Genau wie die Tutoren und Repetitoren aus denen seine Rolle hervorgegangen ist bietet er Wissen, Hilfe und Unterstützung an, ob diese dann angenommen wird liegt dann bei den gecoachten Personen und Gruppen selbst.

Zurück zur agilen Arbeitswelt. Analog zu den anderen Coach-Berufen wird auch der Agile Coach normalerweise so verstanden, dass er ein externer, helfender Begleiter für Teams und Organisationen ist. Um noch einmal die Analogie zu Tutoren und Repetitoren zu nennen: genau wie diese den Studenten vermitteln was das nötige Prüfungswissen ist und wie man wissenschaftlich arbeitet, vermittelt der Agile Coach das Wissen um die agilen Frameworks und Prinzipien sowie das Verständnis von iterativem, incrementellem, datengetriebenem Arbeiten. Was seine Coachees daraus machen liegt dann bei ihnen.

Um das stärker zu konkretisieren: sowohl die Rollen-Ausprägungen als auch die Themengebiete lassen sich bei näherer Betrachtung auf (teilweise überlappende) Schwerpunkte verdichten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit - bei den Rollen können das z.B. Trainer, Berater, Mentor oder Auditor sein, bei den Themengebieten Methodiken (XP, Scrum, etc), technische Praktiken (TDD, Microservices, etc), Skalierung (Scrum@Scale, Flight Level-Kanban, usw) und weitere (mehr dazu hier). Sowohl für Organisationen als auch für Agile Coaches selbst kann es hilfreich sein sich anhand dieser verschiedenen Dimensionen einen Überblick über den Coaching-Bedarf und das Coaching-Angebot zu verschaffen. Zum Beispiel so:

Beispiel für eine Matrix-Darstellung
Was man durch diese Aufteilung erahnen kann: selbst die drei oben genannten Verfasser des agilen Manifests würden in einer solchen Aufteilung ihre Position finden: als XP-Coach, als Facilitator und als Scaled Agile- bzw. Company Coach. Vor allem bei Auftragsklärungen, aber auch beim Erstellen von Angeboten und Ausschreibungen kann eine solche Darstellung eine wertvolle Hilfe sein um sicherzustellen, dass Coach und Coachee zusammenpassen. Umgekehrt führt bei fehlender Konkretisierung die nicht festgelegte Rolle mitunter zu Missverständnissen bei der Besetzung.

Was ausserdem bei derartigen Bestandsaufnahmen häufig auffällt ist, dass es in vielen Unternehmen bereits eine Rolle gibt die die meisten dieser Themen bereits abdeckt: die Tätigkeiten des Agile Coaches und des Scrum Masters können sich stark überschneiden, bis hin zur völligen Deckungsgleichheit. Warum das immer wieder so ist wäre nochmal ein eigenes Thema, zumindest ist es aber ein Phänomen mit dem man sich beschäftigen sollte wenn man einen Agile Coach sucht. Mit ein bisschen Glück wird sich herausstellen, dass er unter einem anderen Jobtitel schon längst da ist.

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