Montag, 8. März 2021

Inselgigantismus

Bild: Wikimedia Commons / Padanus - CC0 1.0

Zu den vielen Besonderheiten der Natur die sich als Analogie auf Organisationen übertragen lassen gehört auch die, dass seit langem auf Inseln lebende Tierpopulationen mit der Zeit eine Körpergrösse entwickeln die deutlich über der von vergleichbaren Tieren auf dem Festland liegt. Bekannte Beispiele dafür sind die Galapagos-Schildkröte, der Elefantenvogel und der Dodo, es gibt aber auch zahllose weniger bekannte wie die Riesenratte, den Schreckens-Igel und den Riesengecko.


Die Forschung geht davon aus, dass praktisch alle dieser riesenhaften Arten eine vergleichbare Entstehungsgeschichte haben: zu dem Zeitpunkt an dem ihre Inseln besiedelt wurden oder sich vom Festland trennten gab es dort weder Raubtiere vor denen sie fliehen mussten noch knappe Nahrungsvorräte die sie als erstes erreichen mussten. Klein, schnell und wendig zu sein war damit kein evolutionärer Vorteil mehr.


Die Übertragung auf die Wirtschaft ist naheliegend - überall dort wo Unternehmen über längere Zeiträume keinem Wettbewerb oder keiner Bedrohung ausgesetzt sind (weil sie ein Monopol haben, der Markt schwer zugänglich ist, etc.) gibt es die Tendenz zu starkem Wachstum, sowohl in Bezug auf die Personalstärke als auch in Bezug auf Regeln und Prozesse.


Dieser "organisatorische Inselgigantismus" ist dabei abzugrenzen von dem Phänomen, dass vorher nötige und wertschöpfende Einheiten durch Digitalisierung und Automatisierung unnötig werden. Das gibt es auch, es hat aber einen anderen Hintergrund. Es geht hier explizit um ein imposantes aber unnötiges Wachstum, mit Schwerfälligkeit und hohem Ressourcenverbrauch als Folge.


Dass eine solcher Entwicklung problematisch ist dürfte intuitiv nachvollziehbar sein, ein Blick auf die tierischen Inselgiganten zeigt aber die potentiell verheerenden Folgen auf: überall dort wo die Ökosysteme der von ihnen bewohnten Inseln mit anderen verbunden wurden waren sie den plötzlich entstehenden Wettbewerben und Bedrohungen nicht gewachsen. Fast alle Inselgiganten-Spezies stehen heute vor dem Aussterben.


Vor einer noch nicht so dramatischen, aber bereits bedrohlichen Situation stehen heute viele Unternehmen. Ähnlich wie die frühen Handlungsreisenden und Siedler die bis dahin getrennten Ökosysteme miteinander verbanden öffnen heute Handelsabkommen und verbesserte Transport- und Kommunikationstechnologien die Märkte und machen sie für innovative und bewegliche Wettbewerber zugänglich. Organisatorischer Inselgigantismus ist jetzt ein Problem.


Zum Glück endet an dieser Stelle die Analogie. Galapagos-Schildkröte, Elefantenvogel und Dodo waren in ihrer biologischen Form gefangen, sie waren den neuen Bedingungen hilflos ausgeliefert. Organisationen können sich dagegen auch in kurzen Abständen verändern, gesundschrumpfen und beweglich machen - wenn sie es denn wollen.

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