Montag, 29. August 2022

Agile Demenz

Bild: Pixabay / Saiyed Hirfan - Lizenz

Es gibt eine Erfahrung, die so ziemlich jeder Scrum Master oder Agile Coach schon einmal gemacht haben dürfte: Die initialen Schulungen sind schon lange vorbei, im Arbeitsrhythmus des Teams oder Projekts ist eine gewisse Routine eingekehrt, es gibt auch keine grundlegenden Akzeptanzprobleme des methodischen Vorgehens - aber plötzlich hat ein Grossteil der Kollegen in den Entwicklungsteams das agile Methodenwissen weitgend vergessen und fährt deswegen wichtige Prozesse vor die Wand.


Dieses Phänomen, in Fachdiskussionen oft flapsig als "agile Demenz" bezeichnet, wirkt zwar nach aussen wie ein wiedererkennbares und sich wiederholendes Muster, tatsächlich können dahinter aber sehr unterschiedliche Ursachen stehen (von denen ggf. auch mehrere gleichzeitig vorhanden sein können). Je nachdem welche das sind können dementsprechend unterschiedliche Gegenmassnahmen die jeweils vielversprechendsten sein.


Ein häufiger Grund dafür, dass methodische Aspekte in Vergessenheit geraten ist eine zu hohe Kompliziertheit. Das kann man immer wieder bei SAFe mit seinen zahlreichen Rollen und Prozessen beobachten, aber auch Kanban-Systeme mit zu vielen Policies und Scrum-Umsetzungen mit einer zu kleinteiligen Definition of Done gehören z.B. dazu. In solchen Fällen kann eine Verschlankung des Regelwerks ein guter Weg sein, um eine bessere Erinnerbarkeit herbeizuführen.


Eine verwandte Ursache ist gegeben wenn die Methodik zwar für sich genommen einen überschaubaren Umfang hat, in Relation zur zu lösenden Herausforderung aber unproportional aufwändig ist. Das kommt z.B. dann immer wieder vor, wenn in stabilen, nicht-komplexen Umgebungen nach Scrum (o.Ä.) gearbeitet wird. Für die Beteiligten fühlt sich das schnell wie Bürokratie an, mit der man sich lieber nicht gedanklich befassen will. Auch hier ist Reduktion ratsam.


Ein anderer Grund kann der hohe Anteil an Fach-Vokabular sein, das vor allem für Menschen mit geringen Englischkenntnissen verwirrend sein kann. Die naheliegende Gegenmassnahme wäre die Verwendung von deutschen Worten und einfacher Sprache, die allerdings mit Vorsicht eingesetzt werden sollte. Zwar mag sie intern einiges verständlicher machen, die Kommunikation mit Geschäftspartnern oder das Verständnis von Fachliteratur können aber darunter leiden.


Immer wieder anzutreffen ist die Situation, in der das Methodenverständnis durch eine dauerhaft zu hohe kognitive Belastung verschwindet. Dort wo herausfordernde Fachlichkeit, hochvernetzte Technik und Zeitdruck zusammenkommen ist es nur menschlich, dass (ggf. unbewusst) versucht wird durch das Ausblenden von Themengebieten diese Überlastung zurückzufahren. Die Lösung kann hier nur sein, die Belastung der Menschen zurückzufahren, sonst kann mehr verlorengehen als nur Methodenwissen.


Abgeleitet davon kann schliesslich noch eine weitere Konstellation vorkommen: wenn versucht wird die kognitive Gesamt-Belastung dadurch gering zu halten, dass die Beschäftigung mit Prozess- und Methodenthemen komplett zum Scrum Master oder Agile Coach geschoben wird, dann können diese dadurch im Arbeitsalltag der anderen so wenig präsent sein, dass es hochwahrscheinlich ist, dass sie in Vergessenheit geraten. Dieses "Wegschieben" ist daher eine eher schlechte Idee.


Alleine das Nebeneinanderhalten der letzten beiden Fälle zeigt, dass die Identifizierung von Gründen für die "agile Demenz" zwar möglich ist, einfache Gegenmassnahmen aber der Vielschichtigkeit der Situation aber kaum gerecht werden. Wie so oft im Umfeld des agilen Arbeitens wird daher auch hier kein Weg an ständigem Inspect & Adapt vorbeiführen, um durch ständige Optimierungen dafür zu sorgen, dass die Arbeitsmethodik von allen Beteiligten erinnert und verstanden wird.

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