Freitag, 13. Oktober 2023

Context Collapse

Bild: Wikimedia Commons / Sven-Sebastian Sajak (uncropped) - CC BY-SA 3.0

Jeder braucht ein Hobby, wie wir wissen. Meines ist es, sozialwissenschaftlich beschriebene Phänomene aus anderen Bereichen auf die agile Bewegung zu übertragen, von der Betriebswirtschaftschaft bis zur Politologie. Heute ist es eines aus der Kommunikationswissenschaft, das den schönen Namen Context Collapse trägt. Der Begriff wurde bereits in der Vergangenheit in neue Zusammenhänge übertragen, es passt also, das ein weiteres mal zu tun.


Entwickelt wurde der Begriff des Kontext-Kollaps von den beiden Amerikanern Erving Goffman und Joshua Meyrowitz, die beide beobachteten, dass Kommunikationsinhalte, die in kleinen oder homogenen Gruppen problemlos verständlich waren, bei einer Übertragung in grössere und diversere Gruppen (oder bei einer Kommunikation zwischen unterschiedlichen Gruppen) zu Missverständnissen und infolgedessen häufig zu Konflikten führten.


Die Ursache dafür sahen sie darin, dass in den kleinen oder homogenen Gruppen der Entstehungs- oder Intentions-Kontext einfach zu vermitteln war oder sogar bereits allen bekannt war. In den grösseren oder diverseren Gruppen war das dagegen nicht nur schwieriger, es kam ausserdem immer wieder dazu, dass die Kommunikations-Emfänger die Inhalte unbewusst in ihre eigenen, anders gearteten Kontexte einordneten, was in vielen Fällen zu geänderten Bedeutungen oder Interpretationen führte.


Goffmann und Meyrowitz beobachteten das Wegfallen (oder Kollabieren) von für die Kommunikation wichtigen Kontexten im Rahmen der Einführung von Massenmedien (die eine direkte Interaktion der Kommunikationsparteien verhinderten), Jenny Davis und David Jurgenson (zwei weitere Amerikanische Wissenschaftler) übertrugen es später auf die sozialen Medien und wiesen nach, dass kollabierende Kontexte auch in direkter Kommunikation zu Missverständnissen führen können.


Übertragen wir das auf die agile Bewegung. Dort wo es zur Einführung der verschiedenen agilen Frameworks und Praktiken kommt, treffen fast immer zwei Personengruppen aufeinander, deren Kommunikationsinhalte ohne das Wissen um den jeweiligen Entstehungskontext für die jeweils andere hochgradig missverständlich sein können: klassische Manager auf der einen Seite und agile Entwickler und Methodiker auf der anderen. Ein Context Collapse ist hochwahrscheinlich.


Die Aussagen eines klassischen Managements müssen vor dem Hintergrund bestimmter Rahmenbedingungen gesehen werden. Klassiker unter denen sind (meistens von oben vorgegebene) Budgetierungsprozesse, Planungszeiträume, Zielsetzungen und Aufgabenteilungen, durch die gewisse Grade an Unflexibilität und Determiniertheit funktionswichtig sind. Ohne das zu wissen können die kommunizierten Meinungen und Entscheidungen starr und bürokratisch wirken.


Umgekehrt existieren solche Rahmenbedingungen auch bei den agilen Entwicklern und Methodikern. Klassiker auf dieser Seite sind das Wissen um die disruptive Kraft sozialer Dynamiken oder technischer Komplexität, durch die eine zu detaillierte Planung ständig an der Realität scheitern muss. Ohne das Wissen um diesen Hintergrund kann der Eindruck entstehen, dass der Mehrwert von klaren Zielen und strukturiertem Vorgehen nicht verstanden wird.


Vor diesem Hintergrund betrachtet lassen sich viele der in agilen Transitionen auftretenden Konflikte anders betrachten. Ein sehr wahrscheinlicher Entstehungshintergrund dürfte oft sein, dass den beiden Seiten entweder nicht bewusst ist, wie kontextbedürftig ihre Kommunikation ist, oder dass sie das jeweilige Kontextwissen bei den jeweils anderen voraussetzen. Tritt in einem solchen Fall ein Context Collapse ein, sind Missverständnisse fast zwangsläufig.


Die oben genannten Wissenschaftler haben in ihrer Forschung aber auch einen Ausweg aus dieser Situation beobachtet. Statt die Entwicklung (ggf. unbewusst) einfach hinzunehmen, kann man die Situation eines Context Collapse auch bewusst und kontrolliert herbeiführen (sie beschreiben das als Context Collusion). Ist allen Beteiligten das bewusst, kann dann an einem gemeinsamen Kontext-Verständnis gearbeitet werden, wodurch das Risiko von Missverständnissen und Konflikten sinkt.

Related Articles