Freitag, 6. Oktober 2023

Will agile history be X-ed out?

Irgendwann reichte es ihm. Die Social Media-Plattform, auf der er seit über zehn Jahren zahllose Beiträge gepostet hatte, hatte sich nach einem Management-Wechsel mehr und geändert. Die Usability wurde schlechter, der Diskussionston rauher, die Kommerzialisierungs-Bemühungen aggressiver. Er wollte kein Teil davon sein, also zog er die Konsequenzen: er löschte seinen Account, und mit ihm alle Beiträge die er jemals erstellt hatte.


Um welche Social Media-Plattform es in dieser Geschichte geht kann man sich leicht vorstellen, es ist Twitter, bzw. X nach seiner Übernahme durch Elon Musk. Welcher Nutzer es ist, der seinen Account gelöscht hat, ist dagegen weniger offensichtlich, daher hier die Auflösung: es ist Chet Hendrickson, einer der Pioniere des Extreme Programming und einer der Verfasser des Manifests für agile Softwareentwicklung. Und damit kommen wir zum Thema dieses Beitrags.


Aufgrund ihrer Entstehung "in den Schatten" sind die ersten Jahre der verschiedenen agilen Frameworks (im Wesentlichen die 90er) kaum dokumentiert worden, schliesslich war damals noch nicht absehbar welche Bedeutung sie später bekommen würden. Diese unklare Entstehungsgeschichte hat an vielen Stellen zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen geführt, zum Teil auch zu einer missbräuchlichen Begriffsverwendung.


Das Korrektiv zu diesen Tendenzen waren und sind die Urheber der verschiedenen agilen Frameworks selbst, die bis heute regelmässig darauf aufmerksam machen, wie ihre Ideen eigentlich gedacht waren und an welcher Stelle sie von anderen missverstanden und verfälscht werden. Ein Grossteil dieser Zwischenrufe (bzw. zumindest derer die dokumentiert sind) fand und findet auf Twitter/X statt, z.B. zum Ursprung des Begriffs User Story oder zu Missverständnissen um die Story Point-Schätzung.


Quelle: Twitter
Quelle: Twitter


An dieser Stelle wird das Problem erkennbar: viele der Pioniere der agilen Softwareentwicklung sind mittlerweile im hohen Alter angekommen, so dass abzusehen ist, dass ihre korrigierenden Zwischenrufe zurückgehen und irgendwann verstummen werden. Allerdings konnte man bis vor kurzem davon ausgehen, dass ihre Dokumentation auf Twitter/X bestehenbleiben würde, so dass es im Zweifel möglich wäre, auf sie zu referenzieren.


Angesichts der aktuellen Entwicklung bei Twitter/X muss man allerdings befürchten, dass dieses Archiv in seinem Bestand gefährdet ist. Die zu Beginn genannten Beiträge von Chet Hendrickson sind bereits verschwunden, mit Ron Jeffries und Martin Fowler haben schon weitere Pioniere und Verfasser des agilen Manifests ihren Unmut mit der aktuellen Entwicklung bekundet. Und sollte Elon Musks Plan umgesetzt werden, Twitter/X kostenpflichtig zu machen, könnte das zur Löschung weiterer bedeutender Accounts führen, deren Inhaber nicht bereit sind, Geld an ihn zu zahlen.


Ob es wirklich so kommen wird? Keiner kann es sagen, aber unwahrscheinlich ist es leider nicht mehr. Was kann man dagegen machen? Nichts, es sei denn man gehört zu den Menschen, die Elon Musk oder die Pioniere der agilen Bewegung beeinflussen können. Sind diese Daten irgendwo gesichert? Nur zum Teil in der Wayback Machine und unzugänglich ("embargoed") in der Library of Congress. Man kann eigentlich nur zusehen und abwarten was passiert.


Zugegeben, wir reden hier von einem Thema, das sehr in Richtung "Special Interest" geht. Aber für die Disziplinen der Technik- und Management-Geschichte und für alle, die daran interessiert sind, wie die verschiedenen agilen Praktiken und Frameworks entstanden sind und ursprünglich gedacht waren, wäre der Verlust der Dokumentation bei Twitter/X wirklich, wirklich schade.

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