Freitag, 3. November 2023

The Paradox of Stasis

Bild: Wikimedia Commons / Andrea Westmoreland - CC BY-SA 2.0

Wer hier häufiger mitliest weiss es: zu meinen Angewohnheiten gehört es, Erkenntnisse aus den verschiedensten Wissensgebieten zu nehmen und auf mein berufliches Umfeld zu übertragen. Heute geht es dabei um eine Studie von James Stroud, einem amerikanischen Evolutionsbiologen. Sie trägt den schönen Namen "Fluctuating selection maintains distinct species phenotypes in an ecological community in the wild" und handelt von der Untersuchung von Anolis-Echsen.


Ausgangspunkt der Studie ist das Phänomen, dass diese Eidechsen-Art seit 20 Millionen Jahren existiert, ohne sich in dieser Zeit verändert zu haben (!). Dieser lange Zeitraum stellt scheinbar die Evolutionstheorie in Frage, schliesslich müssten Lebewesen sich ihr zufolge immer wieder an die sich ändernde Umgebungsbedingungen anpassen und dadurch ihre Erscheinung verändern. Dass das bei Tierarten wie den Anolis-Echsen nicht passiert, ist daher wissenschaftlich hochinteressant.


Strouds Langzeit-Beobachtungen führten zu einer überraschenden Erkenntnis: evolutionäre Veränderungen (z.B. der Beine) kommen bei Anolis-Echsen nicht nur vor, sondern sogar extrem häufig, zum Teil finden sie sogar im Jahresrhythmus statt. Da die Umgebungsbedingungen (z.B. das Nahrungs-Angebot) sich allerdings ständig innerhalb eines bestimmten Spektrums hin- und herverändern, entwickeln die Echsen sich immer wieder zur Ursprungsform zurück und von da wieder auseinander.


Dieses Phänomen einer permanenten Anpassung bei gleichzeitiger langfristiger Beibehaltung der grundlegenden Erscheinugsform wird in der Studie The Paradox of Stasis genannt, also das widersprüchlich erscheinende Konzept, gerade durch langfristige Unveränderbarkeit besonders anpassungsfähig zu sein. So viel zur Eidechsen-Forschung, weiter zur Übertragung: gibt es das Paradox of Stasis auch in menschlichen Organisationen?


Die Antwort: ja, man findet es. Die Beispiele reichen von grossen Industriekonzernen wie Toyota, die trotz sich massiv ändernder Märkte und Technologien seit Jahrzehnten eine ähnliche Organisations-Struktur haben, bis hin zu den Feuerwehren, die trotz ständiger Modernisierung noch immer in Feuerwachen, Löschzüge und Löschgruppen unterteilt sind. Da es aber auch zahlreiche Gegenbeispiele gibt, stellt sich die Frage, in welchen Zusammenhängen diese Stabilität möglich ist (und wann nicht).


Die erste grundlegende Bedingung dürfte sein, dass veränderte Umgebungsbedingungen zwar möglich, aber nicht zu weitreichend sein sollten. Genau wie das komplette Abholzen ihrer Heimat-Wälder die Anpassungsfähigkeit von Anolis-Echsen an ihre Grenzen bringt, würde z.B. die Verdrängung der Autos durch andere Verkehrsmittel mit Sicherheit auch an Toyota nicht ohne grössere und dauerhafte Veränderungen vorbeigehen. Eine zumindest rudimentäre Stabilität braucht es also.


Die zweite grundlegende Bedingung dürfte darin bestehen, dass die "Grundform" eine gewisse Flexibilität hat, die wechselnde Ausgestaltungen ermöglicht. So wie Anolis-Echsen auch bei stark unterschiedlichen Bein-Längen noch der selben Gattung zugerechnet werden, gelten Löschzüge und Löschgruppen auch dann noch als solche, wenn ihre Kommunikationswege und -techniken sich ständig ändern (z.B. von Glocken über Signalhörner, Lautsprecher und Telefone hin zu Funkgeräten).


Aus unternehmerischer Sicht ist es hochgradig attraktiv, eine Organisation zu sein, in der das Paradox of Stasis ausgeprägt ist, nicht nur wegen der kurzfristigen Anpassungsfähigkeit, sondern auch weil sinnvolle Kontinuitäten einfacher gewahrt werden können und die grossen und teuren regelmässigen Reorganisationen unnötig werden. Ein rudimentär stabiles Geschäftsfeld zu finden, dürfte dabei die einfachere Herausforderung sein, mit der Flexibilität der Ausgestaltung dürften sich viele schwerer tun.


Auch da gilt (wie so oft): wenn es einfach wäre, würde es jeder machen. Überspitzt gesagt: nicht jedes Unternehmen kann wie eine Anolis-Echse sein. Auch als Dinosaurier kann man ein ziemlich gutes Dasein fristen. Man ist dann gross, berühmt und beeindruckend - nur muss man sich irgendwann radikal verändern um weiterbestehen zu können.

Related Articles