Donnerstag, 9. Januar 2020

Altsysteme


Der Spiegel hat es getan. Das grosse alte Flaggschiff der deutschen Medienlandschaft hat sich von seinen historischen Hinterlassenschaften befreit und seine digitalen Auftritte einem Relaunch unterzogen. In beispielhafter Tranzparenz wurde dabei nicht nur kommuniziert wie das methodisch vor sich gegangen ist sondern auch was die Probleme waren die man damit hinter sich lassen will. Und das waren einige (Informationen aus diesen Quellen: 1, 2, 3).

  • Das bisherige Redaktionssystem Content Entry war zu einer Zeit selbst gebaut worden als es auf dem Markt kein gutes CMS zu kaufen gab (vermutlich um das Jahr 2000 herum, von den ursprünglichen Entwicklern dürfte damit kaum noch einer da sein)
  • Moderne App-Development-Frameworks waren nicht einsetzbar (was es schwer gemacht haben dürfte neue Entwickler an Bord zu holen)
  • Das alte System war nicht lauffähig auf aktuellen Browsern, weshalb mit einer alten Version des Internet-Explorers gearbeitet werden musste (für die es vermutlich keinen Hersteller-Support mehr gab)
  • Die erstellten Websites waren nicht responsiv (im Zeitalter der mobilen Internetnutzung ein Problem)
  • Die Mobile Apps hatten eine überproportionale Dateigrösse (was für Probleme bei Download und Speicherplatz sorgt)
  • Änderungen, z.B. im strategisch wichtigen Bezahlbereich, waren nur noch schwer zu implementieren (dadurch behindert die IT die Geschäftsentwicklung)
  • Selbst im Normalbetrieb waren die Systeme fehleranfällig (also ressourcenbindend und teuer)
  • Andere Medien des Unternehmens (Manager Magazin, Bento) liefen auf eigenen CMS-Varianten, wodurch sich Instandhaltung- und Erneuerungsaufwände nochmal multiplizierten 

Man kann an dieser Übersicht sehen, dass der Zustand der alten Anwendungen ein starkes Hindernis für realistische Planung, strukturiertes Arbeiten, schnelle Reaktionsfähigkeit und geregelten Betrieb gewesen sein dürfte. Wer schon in derartig "historisch gewachsenen" Systemen gearbeitet hat kennt die Phänomene die dort gehäuft auftreten: erratisches Verhalten der Software, veraltete Dokumentation, viele Abhängigkeiten, fehlende Kompatibilität mit modernen Standards, fehlende Testabdeckung, Störung des Arbeitsflusses durch Bugfixes und Hotfixes, Stabilisierungsphasen nach jedem Release.

Derartige Zustände sind Nichts was den Fall des Spiegels zu etwas Besonderem gemacht haben, sie finden sich in nahezu jedem grösseren Unternehmen wieder. Bei vielen Konzernen sind sie sogar wesentlich stärker ausgeprägt, da hier zentrale Anwendungen (Warenwirtschaftssysteme, Kernbankensysteme,  ERP-Systeme, etc.) noch aus den 90er oder 80er Jahren kommen. In diesen Fällen sind die oben genannten Probleme oft so gravierend, dass selbst kleine Modifikationen die gesamte Arbeitskapazität der IT-Ressorts über Monate hinweg in Anspruch nehmen. Produktinnovationen werden so nahezu unmöglich, zumindest aber unwirtschaftlich.

Der Spiegel hat mit dem Relaunch also das einzig Richtige gemacht. Zu dieser Geschichte gehört aber auch, dass sie trotzdem langwierig und teuer gewesen sein dürfte. Das Ablösungsprojekt "NextGen" hat ganze drei Jahre gedauert, in denen die Neuentwicklung parallel zum Betrieb der "alten Welt" gelaufen ist. Die noch bessere Lösung wäre eine früh begonnene und kontinuierliche Modernisierung gewesen, die dafür gesorgt hätte, dass der Problem-Rückstau gar nicht erst entsteht (Stichwort organisatorische Schulden). Man kann dem Spiegel nur wünschen, dass das ab jetzt geschieht.

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