Donnerstag, 5. Juli 2018

Nicht-Newtonsche Organisationsformen

Bild: Pixabay / Moho01 - Lizenz
Wie würde eine ideale Organisationsform eines agilen Unternehmens aussehen? Eine Frage die noch schwieriger zu beantworten ist als es zunächst den Anschein hat. Selbst wenn es klar ist, dass das Erscheinungsbild anders sein muss als in den starren, bürokratischen Strukturen der Gegenwart - fast alle Scrum Master, Agile Coaches und Unternehmensberater bleiben die Antwort auf die sich darauf anschliessende Frage schuldig: Wie dann?

Die naheliegendste Erwiederung ist die klassische, unbefriedigende Beraterantwort: es kommt immer darauf an. Grundsätzlich ist das auch richtig, nur durch die Orientierung an den im Einzelfall gegebenen Herausforderungen kann eine Organisation reaktionsfähig und somit agil bleiben. Das Problem ist die damit einhergehende Gefahr der Beliebigkeit und Planlosigkeit, die dazu führen kann, dass dauerhaft oder zeitweise in die falsche Richtung gelaufen wird. Ähnlich wie im Fall der Produktentwicklung gilt auch in der Organisationsentwicklung, dass es ein Zielbild oder eine Vision geben sollte der man folgen kann. Die wird durch ein "Kommt darauf an" nicht geliefert.

Auch die nächsthäufige Idee ist nicht ganz befriedigend: die "fluide Organisation". Dabei ist auch dieser Ansatz gut. Genau wie eine Flüssigkeit bewegt sich eine solche fluide Organisation nicht auf dem direktesten Weg Richtung Ziel (→ Zielbild/Vision) sondern auf dem Weg des geringsten Wiederstandes. Hindernisse werden nicht bekämpft sondern umflossen, und bei einer Verlagerung des Widerstandes verlagert sich auch der Fluss. Das Problem an dieser Stelle: manchmal muss man auch im agilen Kontext standhaft sein, etwa um zu Überregulierung oder Überspezifikation Nein zu sagen. Dafür sind fluide Organisation nicht gemacht.

Letztendlich bräuchte es eine Kombination der drei Typen: fluide wenn es möglich ist, mit stabileren, wiederstandsfähigeren Strukturen wenn es nötig ist und das Ganze ständig wechselnd, je nachdem was gerade Sinn macht. Eine Inspiration dafür wie das aussehen könnte liefert ein physikalisches Phänomen: die nicht-newtonschen Flüssigkeiten. Grundsätzlich verhalten diese sich wie jede andere Flüssigkeit auch und fliessen entlang des geringsten Widerstandes. Aber: wenn sie unter Druck gesetzt werden verfestigen sie sich, und zwar um so stärker je heftiger der Druck ist. Erst wenn der nachlässt verflüssigen sie sich wieder. Ein konkretes und verblüffend bekanntes Beispiel dafür kann man sich hier ansehen.

In die Realität umsetzbar ist eine derartige nicht-newtonsche Organisationsform allerdings nur wenn ihre Mitglieder erhebliches Commitment und einen hohen Reflektionsgrad haben. Sobald angefangen wird auf die Organisation Druck auszuüben müssen sie das erkennen und sich zum Widerstand zusammenschliessen, sobald der Druck nachlässt müssen sie die dafür erschaffenen Regeln und Strukturen zurückbauen und auflösen. Das immer wieder zu tun ohne irgendwann zu sehr in eine Richtung zu kippen ist eine Herausforderung.

Der Punkt ist aber auch, dass man eine nicht-newtonsche Organisation eher als ein anzustrebendes Fernziel sehen muss und nicht als den nächsten umzusetzenden Schritt. Wie oben gesagt: als Zielbild oder Vision. Selbst wenn diese vermutlich nie zu hundert Prozent erreichbar ist - sie gibt der Organisationsentwicklung die Möglichkeit zu überprüfen ob der eingeschlagene Weg noch der richtige ist oder ob er korrigiert werden sollte. Allein das ist schon viel wert.

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