Donnerstag, 21. Februar 2019

Hasenbrot-Syndrom

Bild: Pixabay / kalhh - Lizenz
Vor langer Zeit habe ich für ein paar Monate in einem Krankenhaus gearbeitet. Unter den vielen Dingen die aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben sind sticht eines heraus: die Vorliebe mehrerer älterer Patienten für altes, trockenes Brot, so genanntes Hasenbrot (→ eigentlich zum Verfüttern an die Hasen gedacht). Dass dieses Detail hängengeblieben ist liegt an einer weiteren Begebenheit wenige Jahre später, denn in einem Psychologiebuch an der Universität befand sich eine Erklärung dafür.

Dem Verfasser zufolge führte die Lebensmittelknappheit in den späteren Jahren des zweiten Weltkriegs dazu, dass in vielen Gegenden kaum frisches Brot verfügbar war. Man musste sich mit dem alten, hart gewordenen begnügen. Eine schwierige Situation, der das Unterbewusstsein vieler Menschen mit einer Selbsttäuschung begegnete. Hasenbrot sei doch eigentlich köstlich, redeten die Betroffenen sich ein, man könne froh sein es zu haben. So wurde die Situation erträglicher.

Dieses Phänomen (in der Psychologie spricht man von einem Bestätigungsfehler) setzte sich auch nach dem Krieg fort. Obwohl frisches Brot wieder verfügbar gewesen wäre blieben viele Betroffene bei einer Vorliebe für altes, trockenes. Denn: jetzt davon abzulassen wäre einem Eingeständnis gleichgekommen sich selbst jahrelang belogen zu haben. Bewusst oder unbewusst wurde entschieden diese Lüge aufrechtzuhalten, mit der Konsequenz bis zum Lebensende trockenes Brot essen zu müssen.

Ein derartiges Hasenbrot-Syndrom (so wurde es in dem Buch bezeichnet) kann man auch unabhängig von seinem namensgebenen Objekt vorfinden. Überall dort wo jemand mit belastenden Umständen seinen Frieden gemacht hat kann es dazu kommen, dass er sich selbst vormacht sie unproblematisch oder sogar erstrebenswert zu finden. Je nach Kontext kann das zu grotesken Ergebnissen führen, etwa dazu, dass sogar sinnentleerte, repressive und entmündigende soziale Systeme verteidigt und freiwillig beibehalten werden.

Dort wo gut gemeinte Change-Bemühungen auf derartig begründete Widerstände treffen kann ein weiteres Vorgehen schwierig und schmerzhaft werden. Die Neubewertung einer bisher existierenden Gehorsams- oder Angstkultur als falsch, sinnlos oder unmoralisch kann an Lebenslügen rühren, mittels derer sich die Betroffenen mit den herrschenden Umständen arrangiert haben. Die damit verbundenen Abwehrreaktionen können emotional und heftig sein.

Der Umgang mit solchen Hasenbrot-Syndrom-artigen Widerständen ist schwierig und bewegt sich auf einem schmalen Grad zwischen Fürsorge, gerechtfertigten Eigeninteressen und vorschneller Pathologisierung. Wenn möglich sollte das weitere Vorgehen Menschen überlassen werden die dafür ausgebildet sind.

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