Montag, 11. März 2019

Scrum-Zertifiziert - und ratlos wie Scrum funktioniert

Bild: Pexels / Bruce Mars - Lizenz
Zertifizierungen sind ein grosses Thema. In der Wirtschaft im allgemeinen, in der IT im Speziellen, im agilen Kontext im ganz Speziellen und vor allem im Umfeld von Scrum. Alleine die grössten beiden Organisationen, die Scrum Alliance und Scrum.org haben weltweit mehr als 500.000 Zertifikate für Scrum Master und Product Owner vergeben, dazu kommt eine unklare Nummer von anderen Anbietern (von denen es wesentlich mehr gibt als man denken sollte).

Viel Expertise, sollte man denken. So viele Menschen mit bestandenen Prüfungen und (bei einigen Anbietern) regelmässigen Re-Zertifizierungen sollten eine gute Grundlage bilden, basierend auf der viele Unternehmen gekonnt an die Implementierung von Scrum gehen können. Denn wer so ein Zertifikat sein Eigen nennt hat bewiesen, dass er weiss wie man dieses Framework ein- und durchführt - richtig? Nun, leider nein.

Irritierenderweise ist keine der gängigen Zertifizierungen ausreichend um auf die Arbeit in oder mit Scrum vorzubereiten. Nicht nur weil sie lediglich Theorie vermitteln (obwohl schon das ein gewichtiger Punkt ist). Viel wichtiger ist aber ein zweiter: selbst das in den Zertifizierungskursen vermittelte und in den Prüfungen unter Beweis gestellte Wissen bildet nicht vollständig ab was nötig ist um später damit zu arbeiten. Selbst wer es vollständig verinnerlicht hat wird meistens an der Umsetzung scheitern, solange er nicht in grossem Umfang nicht prüfungsrelevanten Stoff verinnerlicht hat.

Dieser hochgradig irritierende Zustand der "zertifizierten Praxisuntauglichkeit" ist kein Zufall. Er ergibt sich zwangsläufig aus dem Zusammenspiel zweier Faktoren. Zum einen aus der Framework-Natur von Scrum und zum anderen aus der (schon vor Scrum existierenden) grundsätzlichen Arbeitsweise der Schulungsindustrie, an die die Zertifizierungsorganisationen die vorbereitenden Kurse ausgelagert haben.

Werfen wir zunächst einen Blick auf den Framework-Charakter. Mit voller Absicht erwähnt der Scrum Guide (das offizielle Regelwerk) zentrale Punkte nicht. Nirgendwo in ihm wird erwähnt wie Abnahmen stattfinden oder warum (und dass) paktisch alle Scrum-Teams Boards benutzen, kein einziges mal geht er auf DoR und User Stories ein, etc. etc. Das bedeutet nicht, dass es unklar wäre wie damit umgegangen werden kann - im letzten Vierteljahrhundert haben sich zahlreiche Best Practices und Good Practices herausgebildet. Da diese in Einzelfällen nicht passend sein könnten stehen sie aber nicht im Scrum Guide. Kennen muss man sie trotzdem.

Als nächstes zur Arbeitsweise der Schulungsindustrie. Es ist nicht so, dass diese die Good Practices und Best Practices nicht vermitteln könnte - sie will es aber nicht. Der Grund dafür ist, dass die üblichen ein- oder zweitägigen Kurse gerade ausreichend sind um die Inhalte des Scrum Guides zu vermitteln. Die umgebenden Kontextinformationen ebenfalls aufzunehmen würde dazu führen, dass aus Tagen Wochen würden. Da das kaum ein Arbeitgeber finanzieren würde bleibt es bei den besser verkaufbaren Kurzveranstaltungen. Umsatz ist hier letztendlich wichtiger als umfassende Wissensvermittlung.1

In Kombination führen der Frameworkcharakter von Scrum und die Gewinnorientierung der Schulungsindustie zur oben genannten zertifizierten Praxisuntauglichkeit. Sie ist der Grund für das Scheitern zahlloser Scrum-Einführungen und agiler Transitionen, denn da zahlreiche Unternehmen die oben genannten Hintergründe nicht kennen glauben sie, dass mit dem Zertifikat alles nötige Wissen erworben wäre. Sobald die Lücken im Framework auffallen werden diese dann reflexhaft mit Versatzstücken des alten Vorgehens gefüllt, wodurch Agilität meistens unmöglich wird.

Um mit einer positiven Note zu enden - das alles heisst nicht, dass man sich nicht mit dem Scrum Guide beschäftigen sollte. Man kann und sollte es tun. Man kann sein Wissen sogar prüfen lassen wenn man das möchte. Man sollte diese Prüfung nur nicht mit einem "theoretischen Führerschein für Scrum" verwechseln. Das ist sie nicht und das kann sie in der gegenwärtigen Konstellation auch nicht sein.


1Verständlicherweise, schliesslich sind die Schulungsanbieter private Unternehmen und müssen ihr Einkommen erwirtschaften

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