Donnerstag, 7. April 2022

Overton-Fenster

Bild: Pixabay / Bertsz - Lizenz

Zu den interessanteren Modellen der Change-Kommunikation gehört das so genannte Overton-Fenster, benannt nach Joseph Overton, einnem US-amerikanischen Lobbyisten. Ursprünglich von ihm entwickelt und nach seinem Tod von dem Think Tank Mackinac Center for Public Policy weiter ausdifferenziert beschreibt es den Teil des Meinungsspektrums dessen Ansichten mehrheitsfähig sind (umgekehrt sind diejenigen ausserhalb des Overton-Fensters es nicht).


Die Grundannahme ist, dass Ansichten von den Menschen in eine von sechs Kategorien einsortiert werden: Undenkbar, Radikal, Erträglich, Schwierig, Mehrheitsfähig und Allgemein Anerkannt. Die letzte Kategorie liegt aber nicht am Rand sondern in der Mitte des Spektrums, von ihr aus nimmt die Mehrheitsfähigkeit in beide Richtungen ab. Bedingt dadurch haben nur Meinungen in der Mitte des Spektrums die Chance umgesetzt zu werden, nur sie liegen in dem Fenster um das es hier geht.



Um das mit Konzepten aus der Politik zu veranschaulichen: In der Mitte befindet sich z.B. die Ansicht, dass die soziale Marktwirtschaft eine erstrebenswerte Gesellschaftsform ist, ganz links der Kommunismus, ganz rechts der Manchester-Kapitalismus, dazwischen die äquivalenten Ansichten zu den Übergangstypen wie zum Beispiel der Chicagoer Schule, dem Nordischen Modell, etc. Entsprechend gibt es auch bei anderen Themen extreme Meinungen auf beiden Seiten mit einer kompromissfähigen gemeinsamen Schnittmenge in der Mitte.


Der spannende Punkt ist jetzt, dass das Overton-Fenster sich verschieben kann, bzw. dass Ansichten sich mit der Zeit in es hinein- oder aus ihm hinausverschieben können. Das kann durch Überzeugungsarbeit und Aufklärung geschehen aber auch durch Täuschung und Demagogie, gegebenenfalls sogar nahezu unbemerkt durch schleichende Normalisierung (oder deren Gegenstück, gewissermassen die schleichende Entnormalisierung).


Der Erfolg oder Misserfolg von Change-Projekten in grossen Organisationen lässt sich oft gut mit dem Overton-Fenster erklären. Dass Konzepte wie #NoEstimates oder Beyond Budgeting fast nie umgesetzt werden liegt daran, dass sie als unsagbar oder radikal gelten, selbstorganisierte Teams haben sich in den letzten Jahren von erträglich und schwierig zu mehrheitsfähig verschoben, (oberflächliche) Bekenntnisse zur Agilität sind allgemein anerkannt.


Auch die Gründe die zu diesen Verschiebungen geführt haben lassen sich nachvollziehen. Zu ihnen gehört die Soft Power der agilen Frameworks, die sie irgendwie hip und modern erscheinen lassen und die Erfolgsgeschichten bekannter agil arbeitender Firmen wie Spotify oder Youtube aber (leider) auch der agil-industrielle Komplex, dem man bei aller berechtigten Kritik nicht absprechen kann ein sehr geschicktes Marketing zu betreiben.


Umgekehrt passen auch Gegenbewegungen in dieses Muster. Dass ein Scrum Master nur ein einziges Team begleiten sollte ist z.B. in den frühen Phasen vieler Transitionen mehrheitsfähig, alleine durch den Fachkräftemangel kommt es aber fast überall zu einer schleichenden Normalisierung einer parallelen Begleitung mehrerer Teams oder einer Ausübung in Teilzeit, parallel zu einer Tätigkeit als Entwickler oder Projektmanager. Am Ende ist die Vollzeit-Begleitung nur noch eines Teams eher schwierig.


Wie immer kann alleine die Kenntnis eines Modells wie des Overton-Fensters hilfreich sein, da sie es ermöglicht Verschiebungen in der Mehrheitsfähigkeit zentraler Konzepte zu erkennen und so auf Handlungsbedarf aufmerksam zu werden. Es kann aufbauend darauf auch daran gearbeitet werden sie in dieses Fenster hinein- oder sie aus ihm herauszubewegen, gegebenenfalls kann sogar die Arbeit an denen die zur Zeit noch als radikal gelten auf später verschoben werden um Kräfte zu sparen.


Zuletzt sind auch spannende Differenzierungen möglich. Für die meisten Scrum Master-Communities dürfte etwa SAFe deutlich ausserhalb des Overton-Fensters liegen, für die meisten Management-Kommittees dagegen deutlich innerhalb - selbst wenn beide zum selben Unternehmen gehören. Viele Konflikte dürften so auf einmal viel besser zu verstehen sein als zuvor.

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