Dienstag, 19. April 2022

Agile Coach (II)

Bild: Unsplash / Christina Morillo - Lizenz

Obwohl sie in keinem der bekannten agilen Frameworks vorkommt gibt es eine "agile Rolle" die in immer mehr Unternehmen anzutreffen ist. Die Rede ist vom Agile Coach (eine Einführung in diese Rolle gibt es hier). Gleichzeitig ist aber auch in immer Unternehmen eine Unzufriedenheit mit den Stelleninhabern zu spüren, die als "zu gefühlig" oder "zu esoterisch" wahrgenommen werden. Warum das so ist müsste noch erforscht werden, eine Hypothese habe ich aber bereits.


Der Begriff des Coach ist im Englischen sehr vieldeutig. Er kann so unterschiedliche Ausprägungen umfassen wie den Financial Coach, der etwa dem deutschen Schuldenberater entspricht, den Sports Coach, den man in Deutschland als Trainer bezeichnen würde und den Vocal Coach, dessen Pendant in Deutschland der Gesangslehrer wäre. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie ihre Coachees nicht nur auf Wunsch unterstützen sondern sie auch anleiten und ihm Spar-, Lern- oder Trainingsziele setzen.


Lediglich einige Spezialausprägungen nehmen sich in dieser Hinsicht völlig zurück und überlassen ihrem Coachee völlig die Entscheidung darüber was durch das Coaching erreicht werden soll und wann es stattfinden soll. Beispiele dafür sind Career-Coaches und Life Coaches, mit deren Hilfe nicht feste Ziele wie Schuldenfreiheit oder Turniersiege erreicht werden sollen, sondern deren Konsultation eher zu Selbsterkenntnis und Klarheit über die eigenen Wünsche und Ziele führen soll.


Betrachtet man mit dieser Differenzierung im Hinterkopf die Tätigkeit von Agile Coaches über verschiedene Unternehmen hinweg fällt eines auf: was von vielen Umgebungen nachgefragt und erwartet wird ist eher der erste Typ, also die auf Organisations- und Kultur-Entwicklung bezogene Entsprechung eines beratenden und anleitenden Finanz- oder Sport-Coaches, die Berufsausübung vieler Agile Coaches ist aber eher an die der sich selbst zurückhaltenden Career- und Life-Coaches angelehnt.1


Erkennungszeichen einer solchen Grundeinstellung sind z.B. der Grundsatz kein Coaching anzubieten das der Coachee nicht aus eigenem Antrieb angefragt hat oder der Verzicht auf Ratschläge oder Anleitungen, an deren Stelle dann "powerful Questions" treten, durch deren Beantwortung der Coachee selbst seine Wünsche oder Konflikte erkennen kann ("Was willst Du damit erreichen?", "Was macht das mit Dir?", "Woran merkst Du, dass Du Dein Ziel erreicht hast?", etc.).


In einem personenbezogenen Lebens- oder Karriere-Coaching ist ein derartiges Vorgehen auch richtig, dort wo es Organisationen darum geht flexibler, reaktionsfähiger oder kundenzentrierter zu werden geht es aber oft am Bedarf vorbei. Hier würde es eher Sinn ergeben auf Fehler aufmerksam zu machen, Potentiale aufzuzeigen und good Practices zu vermitteln - im Coaching durchaus möglich, nur eben in der gerade genannten Verengung nicht.


Warum diese Verengung vieler Agile Coaches auf Career- und Life-Coaching-Praktiken trotzdem stattfindet ist damit die spannende Frage. Eine validierbare Antwort darauf gibt es zwar noch nicht, (dafür wäre eine umfangreiche qualitative Sozialforschung nötig, die es meines Wissens nach zu diesem Beruf noch nicht gibt), dafür aber einige Erklär-Ansätze, an denen eine Diskussion (oder irgendwann auch eine Validierung) ansetzen kann.


Zum einen wäre das der in den letzten Jahren deutlich sichtbare Brain Drain zwischen den beiden Welten. Bedingt durch ein grosses Angebot bei gleichzeig relativ geringer Nachfrage (und Zahlungsbereitschaft) rutschen viele personenbezogene Coaches mit der Zeit in die wirtschaftliche Prekarität ab, gleichzeitig ist in den meistens IT-nahen agilen Organisationen der Fachkräftemangel spürbar. Ein Wechsel macht also für beide Seiten Sinn.


Ausserdem haben die meisten Unternehmen es bis heute nicht geschafft passende berufliche Entwicklungspfade für ihre Scrum Master, Agile Coaches, Team Coaches, etc. zu entwickeln. Auf der Suche nach irgendetwas Passendem stossen viele auf die Coaching-Ausbildungen, die aber meistens personenbezogene Praktiken wie Auftragsklärung, Powerful Questions und Ähnliches in den Mittelpunkt stellen und Organisationsentwicklung und soziale Systeme wenig oder gar nicht behandeln.


Dazu kommt noch eine Motivation die naheliegenderweise meistens verschwiegen wird: Bequemlichkeit. All den Fragen, Hilfsersuchen und Problemen die sich im Umfeld agiler Transitionen ergeben nur mit Gegen- und Sinnfragen zu begegnen kann ein einfacher Weg sein um sich nicht selbst mit diesen oft schwierigen Themen beschäftigen zu müssen. Natürlich ist Bequemlichkeit nicht in allen Fällen das unterschwellige Motiv, in vielen aber eben doch (ggf. auch unbewusst).


Für die Unternehmen die gerade zu besetzende Agile Coach-Stellen haben würde das bedeuten, dass sie selbst regulieren können ob sie diese mit den passenden Menschen besetzen. Nötig dafür wäre es, Vorkenntnisse oder Interesse an Organisationsentwicklung und Analyse sozialer Systeme zu Einstellungs- und Beförderungs-Voraussetzungen zu machen und diese Themen auch in die beruflichen Entwicklungspfade dieser Rollen einzubauen.


Sollte das dazu führen, dass dann der Fachkräftemangel wieder zuschlägt und sich keine geeigneten Kandidaten mehr finden kann es natürlich eine denkbare Alternative sein doch wieder auf Life- und Karriere-Coaches zurückzugreifen, deren Interesse vor allem auf den einzelnen Menschen liegt, allerdings sollte man dann auch die eigenen Erwartungshaltungen an sie überdenken. Überspitzt gesagt - wer jemanden einstellt der gerne Menschen nach ihren Gefühlen fragt erhält eben genau den.


Ein ganz eigenes Thema wäre übrigens noch die Gruppe der systemischen Coaches, die es fast ausschliesslich im deutschsprachigen Raum gibt. Zu denen vielleicht ein anderes mal mehr.



1Ja, anekdotische Evidenz, aber auf der Basis von über 10 Jahren in den verschiedensten Unternehmen und Branchen

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