Dienstag, 14. September 2021

Der agil-industrielle Komplex

Zu den Begriffen an denen man früher oder später vorbeikommt, wenn man sich näher mit dem Thema der "organisierten Agilität" beschäftigt, gehört der "agil-industrielle Komplex". Gemeint ist damit eine Gruppe von Firmen und Verbänden (u.a. Beratungen, SAFe, Scrum Alliance und Kanban University), denen die Überkommerzialisierung der Agilität unterstellt wird, bis hin zu einer so starken Anpassung an die Vertriebsinteressen, dass dadurch die ursprünglichen Ideale überlagert und verdrängt werden.


Um in derartigen Diskussionen mitreden zu können ist hier der Kontext. Geprägt wurde der Begriff 2016 von Daniel Mezick, einem amerikanischen Unternehmensberater. Der Name nimmt direkten Bezug auf den Begriff des militärisch--industriellen Komplexes, eines Schlagwortes aus den 60er Jahren, mit dem davor gewarnt wurde, dass Rüstungsunternehmen aus Profitgier versuchen könnten, selbst einen Bedarf nach ihren Gütern zu erzeugen, statt nur die Lieferaufträge der Politik zu erfüllen.


In Analogie dazu lautet der Vorwurf an die oben genannten Organisationen, dass es ihnen mittlerweile nicht mehr darum gehen würde, die Arbeitswelt bei ihren Kunden zu verbessern, sondern dass eher die eigenen Profite im Vordergrund stehen. Ein zentraler Kritikpunkt ist dabei die Erfindung immer neuer Zertifizierungen, deren Nutzen für den Anwender mitunter fragwürdig ist (ein zweiter ist die häufig fragwürdige Art des "Ausrollens von Agilität" in Unternehmen, mehr dazu weiter unten).


Aber - sind SAFe, Scrum Alliance und Kanban University wirklich die gewissenlosen Schlangenöl-Verkäufer, als die sie in der oft beissenden Kritik immer wieder dargestellt werden (siehe hier und hier)? Wie immer hilft auch hier eine differenzierte Betrachtung, die auch gerne Elemente von Systhemtheorie enthalten darf, und dankenswerterweise gibt es auch die bereits. Beispielhaft sind z.B. die Ausführungen von Ron Jeffries, einem der Erfinder von XP und einem der Verfasser des agilen Manifests.


Jeffries stellt in den Mittelpunkt seiner Überlegungen die Frage, wer eigentlich die Kunden der grossen Zertifizierungsorganisationen sind und kommt zu der Antwort, dass es sich bei ihnen nicht um die Empfänger der Zertifizierungen handelt, sondern um die zwischen den Zertifizierungsorganisationen und den Zertifizierten angesiedelten Anbieter der Zertifizierungsschulungen, deren Absolvierung eine Voraussetzung für die Verleihung eines Zertifikats ist.


Die von den Schulungsanbietern an die Zertifizierungs-Organisationen abgeführten Lizenzgebühren bilden deren Haupteinnahmequelle, was dazu führt, dass die Inhalte mehr und mehr darauf optimiert werden, in kurzen Trainings (ein bis zwei Tage) vermittelt werden zu können. Und dass die Schulungs-Anbieter sich auf diese Trainings konzentrieren liegt wiederum an deren zahlende Kunden, bei denen es sich meistens nicht um die Zertifizierungs-Empfänger handelt sondern um deren Arbeitgeber.


Dass diese Arbeitgeber (bzw. deren HR-, Change Management- oder Learning & Development-Abteilungen) derartig auf  diese möglichst kurzen Trainings fixiert sind, hat wiederum meistens seine Ursache in einer Kombination aus Effizienz-Überoptimierung und Silo-Bildung. Das Erste führt dazu, dass versucht wird, Lerninhalte und -zeiträume möglichst stark zu komprimieren, das Zweite hat zur Folge, dass die dadurch entstehenden Dysfunktionen von der beauftragenden Einheit nicht gespürt werden.


Denkt man Jeffries' Überlegungen auf diese Weise weiter, werden diese Effekte durch die Arbeitsweisen (und Beauftragungen) vieler grosser Unternehmensberatungen verstärkt, welche die von ihnen begleiteten Veränderungsvorhaben in der Regel mit dem klaren Auftrag angehen, die damit verbundene Umbruchphase so kurz wie möglich zu halten. Und was liesse sich in kürzerer Zeit erreichen und als Erfolg vermelden als die durchgeführte Schulung und Zertifizierung aller Mitarbeiter?


Zur "Vervollkommnung" getrieben werden diese Zustände schliesslich durch die internen Abläufe vieler grosser Firmen. Relativ kurze Management-Amtszeiten führen hier dazu, dass das Melden unrealistisch optimistischer Zwischenstände, verbunden mit einem Verschieben von Problemlösungen in die Zukunft, für die eigene Karriere förderlich ist. Bedingt dadurch kommt es zu den genannten Beauftragungen jener Beratungen, die möglichst schnelle und einfache Lösungen versprechen.


Und damit sind sie aufgezählt, die wesentlichen Hauptakteure des agil-industriellen Komplexes und ihre Motive. Zertifizierungsorganisationen die von Schnelltrainings-Anbietern finanziert werden, welche von Unternehmensberatungen instrumentalisiert werden, die wiederum von Unternehmen beauftragt werden, deren interne Prozesse eher auf schnelle Scheinerfolge als auf nachhaltige Veränderungen ausgelegt sind. Ein Pandämonium.


Positiv gedacht ergibt sich aus diesen Zusammenhängen aber auch der grosse Hebel, mit dem diese Missstände sich wieder beheben lassen. In dem Moment, in dem die vor Veränderungen stehenden Unternehmen sich eher auf nachhaltige als auf schnelle Erfolge focussieren würden, geriete die gesamte "Nahrungskette" des agil-industriellen Komplexes in Bewegung. Zertifizierungen und andere Scheinerfolge würden weniger nachgefragt, der dazugehörende Markt würde austrocknen.


Tatsächlich ist diese Veränderung sogar bereits im Gang, zahlreiche Firmen verzichten schon jetzt auf die Illusion des schnellen Erfolgs und arbeiten stattdessen langsam aber stetig an ihren Prozessen und Strukturen. Letztendlich ein wesentlich besserer Ansatz gegen die Überkommerzialisierung der Agilität als das Konstruieren sinistrer "Komplexe" an Stellen wo in Wirklichkeit nur der Markt eine real existierende Nachfrage bedient.

Related Articles