Montag, 14. September 2020

Das agile Mindset (eine Dekonstruktion)

 

Grafik: Pixabay / Geralt - Lizenz

Dafür, dass das Konzept des "Agilen Mindset" eines ist das häufig genannt und häufig für zentral erklärt wird ist es erstaunlich umstritten. Für die einen ist es die unabdingbare Voraussetzung für jegliche Art des agilen Arbeitens, für andere eher eine esoterische Nebelkerze, die geworfen wird um nicht über die wirklich wichtigen Themen reden zu müssen. Was beide Sichten gemeinsam haben ist aber, dass es hochgradig unklar bleibt was eigentlich gemeint ist wenn dieser Begriff fällt. Höchste Zeit ihn auseinanderzunehmen und einen Blick auf die darin verborgenen Bestandteile zu werfen. Hier sind sie, gesammelt mit einer Kernfrage im Hintergrund - was muss gegeben sein um in kurzen Zyklen reaktions- und lieferfähig (→ agil) zu sein?


Offenheit

Der vermutlich offensichtlichste Bestandteil. Ohne eine grundlegende Offenheit für Neues wird man sich schwer damit tun den initial gefassten Plan ständig zu überprüfen und an die sich ändernde Realität anzupassen. Grundlage dafür ist ein noch fundamentaleres Phänomen, das "Growth Mindset". Es zeichnet die Menschen aus die sich über Überraschungen, neue Herausforderungen und neu zu lernende Themen freuen, statt sie als Belastung zu empfinden ("Fixed Mindset").


Systemisches und analytisches Denken

Ebenfalls fundamental ist die Fähigkeit und Bereitschaft systemisch zu denken. Die Ursache der Komplexität (zu deren Bewältigung die agilen Ansätze entwickelt wurden) sind die unvorhersehbaren Interaktionen der verschiedenen Teil- und Umgebungssysteme. Um auf die Folgen dieser Interaktionen gegebenenfalls schnell reagieren zu können ist es nötig diese Systeme und ihre Beziehungen untereinander identifizieren und analysieren zu können.


Zahlengetriebenheit

Gerade bei Analysen komplexer Zusammenhänge sind es vor allem Zahlen (und deren Veränderungen) die analysiert werden müssen, da Einzelfälle bestenfalls anekdotische Evidenz liefern. Alleine das zu erkennen ist ein wichtiger Schritt, weitere bestehen darin zu erkennen welche Zahlen in welchem Kontext Sinn machen (und in welchem nicht), wie sie erhoben werden können, wozu sie genutzt werden können und wie hoch der damit verbundene Aufwand ist.


Kunden- und Zielgruppenorientierung

Agilität bedeutet auch, die Menschen für die man arbeitet immer besser zu verstehen zu wollen um die Interaktion mit ihnen ständig optimieren zu können. Was sind die Bedürfnisse und Nutzungsgewohnheiten, wie schnell und in welcher Frequenz werden neue und verbesserte Angebote gebraucht, wie werden sie angenommen, wie wird das Feedback eingesammelt und wie fliesst es in das weitere Vorgehen ein? Diese Fragen müssen regelmässig gestellt werden.


MVP-Orientierung

Ein dem Kundenkontakt vorgelagerter Perfektionismus kann alles langsam und teuer machen, da durch ihn die Nutzer- und Auftraggeber-Rückmeldungen erst spät erfolgen und es erst zu spät klar wird wenn irgendwo am Bedarf vorbeiproduziert wurde. Besser ist es auf Minimum Viable Products (MVPs) zu vertrauen, rudimentäre aber bereits benutzbare Früh-Versionen, mit denen bereits Feedback eingeholt und in die Weiterentwicklung integriert werden kann.


Nachholender technischer Perfektionismus

Das unverzichtbare Gegenstück zur MVP-Orientierung. Da diese immer wieder dazu führt, dass Ideen "quick and dirty" umgesetzt werden (was erwünscht ist!) besteht immer wieder die Notwendigkeit diejenigen unter ihnen die von den Nutzern angenommen wurden zu überarbeiten um so die unkomplizierte technische Verständlichkeit, Wartbarkeit und Weiterentwickelbarkeit sicherzustellen. Wird das unterlassen wird alles schwerfällig und langsam, also un-agil.


Verantwortlichkeits- und Delegationsbereitschaft

Zu den grundlegenden Voraussetzungen schneller Kommunikations- und Reaktionsfähigkeit gehört die Abwesenheit grosser oder komplizierter Hierarchien, die den Fluss von Informationen und Entscheidungen verlangsamen und (unabsichtlich) verfälschen würden. Um diese Abwesenheit zu ermöglichen ist es zum einen nötig Informationszugänge und Entscheidungskompetenzen "nach unten" zu verlagern, zum anderen aber auch, dass diese Verantwortungen dort angenommen werden.


Teamfähigkeit

Ein scheinbar einfacher Begriff, hinter dem aber mehr steckt. Teamfähigkeit beschreibt nicht nur die Bereitschaft mit anderen zusammenzuarbeiten sondern im agilen Kontext auch sich als Gruppe so weiterzuentwickeln, dass Crossfunktionalität gegeben ist, dass die Kommunikation effizient ist, dass Flaschenhälse abgebaut werden und dass eine Verantwortlichkeits-, Produktivitäts- und Kreativitäts-fördernde Atmosphäre entsteht.


Transparenz und Ehrlichkeit

Zwei Eigenschaften die beide auf das selbe Ziel einzahlen - die anderen Menschen sollen nicht gezwungen sein nach versteckten und verschwiegenen Informationen suchen zu müssen und sie schlimmstenfalls erst zu spät zu finden. Beides würde entweder zu Verzögerungen führen oder dazu, dass Fehler zu spät erkannt und aufwändig korrigiert werden müssen, schlimmstenfalls mit Auswirkungen auf Qualität und Kundenzufriedenheit.


Humanismus

Ein Wesenszug der meistens (oft unter anderen Namen) zuerst genannt wird steht hier bewusst ganz unten. Um Missverständnisse zu vermeiden - Vertrauen, Empathie, Wertschätzung, Integrität, Augenhöhe und Ähnliches sind grundsätzlich richtige und wichtige Dinge um die sich jeder Mensch bemühen sollte. Zum agilen Mindset gehören sie aber nur, weil sie für einige der zuvor genannten Punkte eine notwendige Voraussetzung sind. Wir können uns glücklich schätzen, dass sie dazugehören, in diesem Kontext sind sie aber nur Mittel zum Zweck. Und Vorsicht ist geboten: dort wo dieses Mittel selbst zum Zweck wird, ist das Agile Mindset zu genau dem esoterischen Konstrukt geworden das es eigentlich nicht sein will. Denn das muss klar sein - in kurzen Zyklen reaktions- und lieferfähig zu sein wird nur durch die Gesamtheit aller zuvor genannten Eigenheiten gewährleistet, aber nicht bloss dadurch dass man sich menschlich verhält.

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