Donnerstag, 26. November 2020

Produktziel und Produktvision

Bild: Pixabay / Larisa K. - Lizenz

Seit November 2020 muss die agile Community mit einer Begriffsverwirrung leben. Das in diesem Monat veröffentlichte Update des Scrum Guide führte einen neuen, bis dahin kaum bekannten Begriff ein: das Produktziel (Product Goal). Verwirrend ist das deshalb, weil es (ausserhalb von Scrum) einen sehr ähnlichen und bereits etablierten Begriff gibt, die Produktvision (Product Vision). Ist das jetzt das Gleiche? Gibt es Unterschiede? Wenn ja welche? Schauen wir uns die Begriffe an.


Die Ursprünge der Produktvision verlieren sich irgendwo im Dunkel der Geschichte, bereits in rückwirkend digitalisierten Fachartikeln findet man sie aber wieder, z.B. 1984 im Harvard Business Review als "Vision for the Product". Konkretisiert wurde sie später in verschiedenen Formen, unter anderem 1991 von Geoffrey Moore in Crossing the Chasm (als "Product Elevator Pitch") und 1995 von Michael McGrath in Product Strategy for High Technology Companies (als "Strategic Vision").


Die Gemeinsamkeit dieser Ansätze ist, dass sie die Produktvision im Sinn eines Leitsterns, Fernziels oder Idealtypus definieren, also als etwas was in der Realität kaum zu erreichen ist. Der damit verbundene Zweck ist, dass durch eine Ausrichtung an dieser Vision kontinuierlich in eine gleichbleibende Richtung gearbeitet werden kann, was sowohl durch Abarbeiten eines langfristigen Plans möglich ist (im Wasserfall-Vorgehen) als auch durch kurzfristiges Optimieren der jeweils nächsten Schritte in Richtung des Langfristziels (agiles Vorgehen).


Im Unterschied dazu kann das im Scrum Guide beschriebene Produktziel explizit erreicht werden. Der in diesem Zusammenhang entscheidende Absatz lautet "The Product Goal is the long-term objective for the Scrum Team. They must fulfill (or abandon) one objective before taking on the next.", wodurch klar wird, dass eine Beendigung der Arbeit am Produktziel möglich ist. Eine Zwangsläufigkeit dass das in absehbarer Zeit geschieht ist das zwar nicht (theoretisch sind Produktziele möglich die erst in Jahrzehnten erreichbar sein werden) grundsätzliche Abschliessbarkeit sollte aber gegeben sein.


Der Differenzierung sollte damit klar sein: die Produktvision ist der führende, aber letztendlich unerreichbare Leitstern, das Produktziel der ferne aber (theoretisch) erreichbare Abschluss aller Arbeiten die für ein Produkt nötig sein werden.


Absehbar ist aber auch: So hilfreich diese begriffliche Unterscheidung für das Verständnis auch sein mag, in der Realität dürfte sie nur selten vorgenommen werden. Es werden wohl nur die methodenbegeisterten Teams sein die in ihrem Backlog eine Differenzierung zwischen Produktvision und Produktziel vornehmen, die meisten werden nur einen der Begriffe verwenden oder sie synonym gebrauchen - was angesichts der grossen Schnittmengen auch unproblematisch sein sollte. Wichtig ist nur, die Unterscheidung zu kennen, um bei Bedarf beides einsetzen (oder den Unterschied erklären) zu können.

Related Articles