Donnerstag, 7. Januar 2021

... und sie schrien nach Klopapier

Bild: Pixabay / Jasmin Sessler - Lizenz
Klopapier ist ein ganz besonderer Stoff. Während Pandemien und anderen Katastrophen gehört es zu den ersten ausverkauften Produkten, und auch in normalen Zeiten kann es als die symbolhafte Verkörperung der sprichwörtlichen dünnen Schicht zwischen der Sauberkeit moderner Zivilisationen und dem Schmutz des Mittelalters gelten. Ganz nebenbei ist es aber auch das Hauptthema einer Anekdote die ich gerne erzähle, einer in der es um die Risiken lokaler Optimierung geht und die auch ein schönes Beispiel für die etwas abwegigen Impediments liefert, mit denen ein Scrum Master mitunter konfrontiert sein kann.

Die Geschichte ereignete sich vor einigen Jahren in einem grossen IT-Projekt eines internationalen Konzerns, einem jener Projekte die so gross sind, dass dafür ein eigenes Gebäude angemietet wurde und das soviel Büro-, Küchen- und Hygiene-Artikel verbrauchte, dass diese regelmässig mit Lastwagen und Gabelstaplern angeliefert wurden. Im Gesamtbudget waren die dafür nötigen Ausgaben kaum sichtbar, für sich genommen ergaben sie aber einen erstaunlichen Betrag.

Nachdem das einmal aufgefallen war wurde hier direkt ein Sparpotential erkannt und das Project Management Office wurde angewiesen die Einkaufspreise zu drücken. Das geschah zum Teil durch die Auswahl billigerer Anbieter, zum Teil aber auch dadurch, dass auf Sonderangebote gewartet wurde. Sobald die irgendwo auftauchten wurden die Bestände aufgefüllt, wenn nicht wurde mit dem Einkauf weitergewartet bis das wieder der Fall war. Sogar definierte Grenzbeträge wurden festgelegt die die Preise nicht überschreiten durften.

Was dann irgendwann passierte dürfte nach dieser Vorrede wohl keinen mehr wundern - die Klopapier-Vorräte waren einmal mehr aufgebraucht, aber gerade zu diesem Zeitpunkt lag kein Anbieter und kein Geschäft mit seinem Preis unterhalb des Grenzbetrages. Das Project Management Office wusste das, ihm waren durch die internen Vorgaben aber die Hände gebunden - es wurde also kein Nachschub gekauft, womit das Drama seinen tragischen Verlauf nahm.

Zuerst verschwanden auch die Vorräte an Küchentüchern und Papier-Wischtüchern, als nächstes begannen die Projekt-Mitarbeiter die Toiletten der umliegenden Lokale zu benutzen, was diese schnell unterbanden. Schliesslich setzten extreme Massnahmen ein: einige Kollegen assen nur noch kleinste Mengen zum Frühstück und Mittagessen (und waren ständig hungrig und schlecht gelaunt), andere fuhren täglich quer durch die Stadt zu anderen Standorten um sich dort zu erleichtern, wieder andere erschienen einfach nicht mehr und arbeiteten nur noch von zu Hause.1

"Wenn das kein Impediment ist, was dann?" fragten die Teams, und da ich zu der Zeit dort Scrum Master war durfte ich nach einer Lösung suchen. Um die unmittelbare Not zu lindern überredete ich das PMO zu einem Akt brauchbarer Illegalität. Das Hygieneartikel-Beschaffungsbudget war zwar nicht erreichbar, wir beschlossen aber ein anderes zweckzuentfremden. Es war das Briefmarkenbudget, das irgendwie den Umstieg auf Email überstanden hatte, nicht mehr genutzt wurde und daher prall gefüllt war. Mit ihm in der Tasche und allen Praktikanten im Schlepptau kaufte ich die Regale des nächsten Drogeriemarktes leer.

Das kurzfristige Problem war damit gelöst, das langwierige war etwas hartnäckiger. Letzten Endes bedurfte es einer konzertierten Anstrengung von verschiedenen Seiten: der Projektleitung wurde aufgezeigt woher der Produktivitätsrückgang kam, mehrere festangestellte Kollegen aktivierten den Betriebsrat, andere drohten ihren Vorgesetzten mit Kündigung, mehrere Teams korrigierten ihre Aufwandsschätzungen deutlich nach oben. Was genau den letzten Anstoss gab liess sich nicht mehr feststellen, aber irgendwann wurden die Einkaufs-Beschränkungen aufgehoben.


Wie oben gesagt, die Anekdote kann zur Illustrierung einiger entgleister Mechanismen grosser Organisationen benutzt werden. Dazu gehören der Drang zur Optimierung jedes noch so unbedeutenden Betrages, das parallele Existieren von sinnlos-Budgets (Briefmarken) und die scheuklappenhafte Ignorierung der Bedürfnisse anderer Organisations-Silos, aber auch das Vermeiden ernsthafter Aufarbeitung von Problem durch das "rückwirkende Verschwindenlassen" der Ursachen (noch gar nicht erwähnt: per Dekret wurde erklärt, den Grenzbetrag habe es nie gegeben, es wäre alles nur ein Missverständnis gewesen).

Vor allem ist es aber eine schöne Geschichte die immer dann erzählt werden kann wenn ein Beispiel für das gebraucht wird was ein Scrum Master den ganzen Tag macht.


1Die Geschichte spielt vor Corona, sowohl die Prozesse als auch die Technik waren dafür nicht geeignet, die Produktivität sank

Related Articles