Dienstag, 10. Mai 2022

Agilität, dort wo man sie nicht vermutet (II)

Bilder: Wikimedia Commons / Lambert van Kleef / U.S. Information Agency - Public Domain

Zu den Texten von mir die auch nach Jahren noch zuverlässig Diskussionen und Unglauben auslösen gehört Agilität, dort wo man sie nicht vermutet, in dem ich erwähnt habe, dass ich in einer deutschen Behörde agile Arbeitsweisen vorfinden konnte (wenn auch unter anderen Namen). Die bei den meisten Menschen verbreiteten Vorstellungen der Art wie dort gearbeitet wird gehen anscheinend komplett in die andere Richtung. Aber - sind staatliche Verwaltung und Agilität tatsächlich solche Gegensätze?


In Diskussionen zu diesem Thema mache ich mittlerweile zu Beginn eine noch weitgehendere Aussage: die ersten Organisationseinheiten die im modernen Europa agil gearbeitet haben waren Teile der staatlichen Verwaltung. Und nicht nur das, viele dieser Einheiten haben diesen Arbeitsmodus bis heute durchgehend beibehalten und setzen ihn mindestens genauso konsequent um wie die an den modernen agilen Frameworks orientierten Softwareentwicklungsteams.


Ein erstes Beispiel dafür ist die preussische Armee, die im 19. Jahrhundert die Auftragstaktik einführte, bei der zwar übergreifende Ziele vorgegeben werden, für deren Umsetzung die einzelnen Einheiten aber autonom vorgehen können. Dieser Führungsstil wurde später von fast allen westlichen Armeen übernommen und beibehalten, u.a. ist er anscheinend ein zentraler Grund für die Erfolge der ukrainischen Armee gegen die im Frühling 2022 gestartete russische Invasion.


Ein zweites Beispiel sind die modernen Berufs-Feuerwehren, die erstmals im 17. Jahrhundert in Wien gegründet wurden und sich im Folgenden überall in Europa und Amerika und später im Rest der Welt etablierten. Die Löschzüge als kleinste Feuerwehr-Einheit haben von Beginn an alle Charakteristiken agiler Team gehabt: klein, crossfunktional, im Brandfall zu schnellen Reaktionen in der Lage, autonom und selbstorganisiert (zumindest während der Einsätze).


Ein weiterer Fall sind die Teams in den Notaufnahmen und Operationsräumen der modernen Krankenhäuser, die ebenfalls seit dem 17. Jahrhundert in Europa entstanden sind. Auch sie sind klein, crossfunktional, reaktionsfähig, autonom und selbstorganisiert. Eine andere Arbeitsweise wäre auch nicht vorstellbar, im Fall von Herzstillständen oder akuten Blutungen würden Befehlsketten oder Aufgabenteilung schliesslich den Tod der Patienten zur Folge haben.


Es liessen sich noch weitere Beispiele finden, vom Katastrophenschutz über die Stromnetz-Dispatcher, die Presse-Referate und die Einsatzgruppen der Polizei bis zur Flugverkehrskontrolle, die zentrale Erkenntnis ist aber klar: dort wo Dezentralisierung, Selbstorganisation, Autonomie, und Reaktionsgeschwindigkeit von Bedeutung sind ist auch (und gerade!) die staatliche Verwaltung dazu in der Lage, und das nicht nur seit Kurzem sondern bereits seit Jahrhunderten.


Dass es auf der anderen Seite auch viele schwerfällige, bürokratische, unnötig hierarchische und unflexible Stellen in der staatlichen Bürokratie gibt stimmt natürlich auch, und bemerkenswerterweise sind einige der im Einsatz mustergültig agilen Einheiten ausserhalb der Einsätze das genaue Gegenteil. Klar ist aber: die von vielen Menschen angenommene Unvereinbarkeit der öffentlichen Verwaltung mit agilen Arbeitsweisen ist falsch. Man muss nur genauer hinsehen.

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