Donnerstag, 19. Januar 2023

Customizing-Software

Bild: Direct Media / StockSnap.io - CC0 1.0

Wenn man versucht Kategorien für verschiedene Arten von Software-Anwendungen zu bilden landet man häufig bei einem bekannten Gegensatzpaar: Individualsoftware, bei der es sich gewissermassen um eine "massgeschneiderte Lösung" handelt und Standardsoftware, die eher "von der Stange gekauft wird". Diese Unterteilung ist auch nicht falsch, zumindest in grösseren Unternehmen lässt sie aber eine wichtige Zwischenkategorie aus und ist dadurch zu ungenau.


Für das bessere Verständnis zunächst ein Blick auf die beiden Grundkategorien, zuerst auf die Individualsoftware. Wie der Name erahnen lässt ist sie jeweils für einen einzigen, meist sehr speziellen Zweck erstellt worden und lässt sich meistens auch nur für den verwenden. Das sorgt auf der einen Seite zwar dafür, genau die nötige Lösung zu haben (wenn es denn richtig gemacht wird), ist aber auf der anderen Seite durch die jeweilige Einzelanfertigung recht teuer.


Standardsoftware dagegen ist für einen häufig und in verschiedenen Unternehmen anzutreffenden Zweck konzipiert, lässt sich also nach einer einmaligen Erstellung immer wieder benutzen und verkaufen (das bekannteste Beispiel dürfte das Computer-Betriebssystem Windows sein). Aus Käufer-Sicht ist neben dem durch Skaleneffekte geringeren Preis der Vorteil, dass der Hersteller für Qualitätsstandards garantiert, Updates entwickelt und einspielt und Schulungsmaterial bereitstellt.


Gerade vor dem Hintergrund, dass praktisch jede Firma heute nur noch auf Basis von Software funktioniert,1 ist der Markt für Standardsoftware mittlerweile riesig. Von Bürosoftware über Buchhaltungsanwendungen bis hin zu Warenwirtschaftssystemen und den Kernsystemen von Banken und Versicherungen wird überall angestrebt fertige Lösungen zu finden, die man nur noch installieren und benutzen muss, ohne sich mit eigener Entwicklung beschäftigen zu müssen.


Die Realität sieht allerdings anders aus. Implementierungsprojekte von Standardsoftware können heute Jahre dauern, dreistellige Millionenbeträge kosten und ganze Unternehmen an den Rand der Handlungsunfähigkeit bringen (ein Klassiker ist dabei die Einführung von SAP, hier eine Übersicht über die spektakulärsten Fälle). Wie kann das sein, oder anders gefragt: wenn bei dieser Art von Software alles Standard ist, wo kommen die ganzen Aufwände her?


Die Antwort hat mit der zu Beginn genannten Zwischenkategorie zu tun, die keinen allgemein anerkannten Namen hat, die ich aber "Customizing-Software" nennen würde. Es handelt sich dabei um scheinbare (und auch als solche verkaufte) Standardsoftware, die aber ohne umfangreiche Anpassungen an den Anwendungs-Einzelfall (so genanntes Customizing) nicht funktionsfähig ist, was die genannten grossen Einführungsprojekte zur Folge hat.


Die Gründe für diesen Anpassungsbedarf können vielfältig sein, häufig anzutreffen sind aber spezifische, aber vom Standard nicht unterstützte Formatierungen von Produkt-, Finanz-, Prozess- oder Personaldaten im die Software kaufenden Unternehmen, Schnittstellen zu Kunden- oder Lieferantensystemen, die auf bestimmte Art bedient werden müssen, oder bestehende Zentralsysteme (ein schlichtes Beispiel wäre ein Single Sign-On), die bestimmte Rahmenbedingungen vorgeben.


Die sich daraus ergebenden (und in den meisten Fällen nicht vermeidbaren) Anpassungen machen den eigentlichen Vorteil von Standardsoftware, die sofortige Nutzbarkeit des fertig eingekauften Produkts, zu nichte. Nicht nur muss initial ein umfangreiches Customizing stattfinden, auch jedes weitere Update des Herstellers muss durch diesen Prozess, da die ursprüngliche Anwendung durch ihre Modifikation nicht mehr mit den auf dem Standard basierenden Weiterentwicklungen kompatibel ist.


Die mit Customizing-Software verbundenen Einführungs- und Anpassungs-Aufwände sind in sehr vielen Fällen ähnlich teuer wie die Entwicklung einer spezifischen Individualsoftware und in einigen Fällen sogar höher, weshalb man sehr sicher sein sollte, die als Standardsoftware angebotene Anwendung auch weitgehend ohne Customizing nutzen zu können (so wie es z.B. im weiter oben genannten Beispiel Windows der Fall ist). Auf die Angaben der Hersteller sollte man sich dabei nicht zu sehr verlassen.


Die Alternative des in Auftrag Gebens einer eigenen Individualsoftware kollidiert zwar häufig mit den vorhandenen Glaubenssätzen und Vorgaben ("Wir bauen keine Entwicklungsabteilung auf, wir sind doch kein IT-Unternehmen", "Wir müssen immer mehrere Lösungen vergleichen können bevor wir uns für die günstigste entscheiden", etc.), an denen zu arbeiten ist aber auf Dauer deutlich billiger als durch Schmerzen und Kosten herauszufinden, dass es sich bei scheinbarer Standardsoftware meistens doch um Customizing-Software handelt.



1Es gibt heute keinen Mittelständler oder Konzern mehr der ohne Software arbeitsfähig wäre.

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