Dienstag, 13. Juni 2023

Willkürliche Deadlines (II)

Bild: CCNull / Marco Verch - CC BY 2.0

Dass willkürlich gesetzte Deadlines problematisch sind, dürfte wohl bei kaum jemandem einen Widerspruch auslösen. Dass sie trotzdem immer wieder anzutreffen sind, hat menschliche und politische Gründe, die leider immer wieder vorkommen werden. Wer in einem solchen Umfeld beruflich unterwegs ist, muss sich daher mit diesem Thema beschäftigen und sollte am Besten überzeugende Gründe parat haben, warum sie keine gute Idee sind.


Zu den überzeugendsten dieser Gründe dürfte gehören, dass willkürliche Deadlines negativ auf den zurückfallen, der sie festlegt. Das ist zunächst für viele Menschen kontraintuitiv, schliesslich scheint in solchen Fällen der schwarze Peter doch bei denen zu liegen, die die gesetzten Fristen nicht einhalten können. Ein Praxisbeispiel zeigt aber, dass auch die andere Seite in Mitleidenschaft gezogen werden kann: das Onlinezugangsgesetz (OZG).


Das OZG wurde im Jahr 2017 im Parlament verabschiedet und legte fest, dass bis zum Jahr 2022 alle Behördengänge auch digital zu erledigen sein müssen. Der letzte Tag dieses Jahres, der 31.12.2022, wurde damit automatisch zur Deadline für die Umsetzung. Schon damals gab es Zweifel, dass diese Fristsetzung realistisch war, mittlerweile weiss man, sie war es nicht. Selbst Monate später sind erst 101 von 600 geplanten Leistungen online.


Die offensichtlichste Folge eines solchen Verzuges: weitere Fristsetzungen verlieren durch ihn ihre Glaubwürdigkeit nach aussen. Neben der fristsetzenden und der (verspätet) umsetzenden Seite gibt es nämlich fast immer eine dritte Partei, die externen Stakeholder. Und um beim Beispiel des OZG zu bleiben: verschiedene Kommentare in den Medien lassen keinen Zweifel daran, dass zukünftigen Zielsetzungen nicht mehr vertraut wird.


In Folge dessen werden zukünftige Zeitpläne von Anfang an mit grosser Skepsis begleitet, regelmässig hinterfragt und mit der ständigen Forderung nach Transparenz in Form von Zwischen-Fristen und Zwischen-Berichten konfrontiert. Diese führen bei allen Beteiligten zu z.T. erheblichen Mehraufwänden, die die Umsetzung nochmals verzögern und dadurch selbst solche Teilziele gefährden, die eigentlich erreichbar gewesen wären. Auch hierzu gibt es Beispiele aus dem OZG-Umfeld.


Anders, aber ähnlich schwerwiegend sind die Folgen nach innen. Das offensichtliche und deutliche Verpassen der Frist führt nämlich bei den mit den unrealistischen Umsetzungszielen beauftragten Menschen zu der Erkenntnis, dass ein solcher Verzug eigentlich kein Problem ist, schliesslich gibt es keine negativen Folgen (die meistens einzig vorhandene Sanktionsmöglichkeit, das Entziehen von Mitteln, würde schliesslich nur zu noch mehr Verzögerung führen).


Ist dieser Eindruck erstmal entstanden, kann von einem weiteren Effekt fast sicher ausgegangen werden - ohne ernsthafte Konsequenzen schwindet die Motivation, sich bei der Umsetzung über das übliche Mass hinaus zu engagieren. Selbst mit relativ geringen Mehraufwänden erreichbare Zieldaten lässt man verstrechen, erst recht wenn diese in einer grösseren Menge von Bitten, Forderungen und Eskalationen untergehen, von denen "alles wichtig ist". Es kommt ungewollt zur Erziehung zur Normverletzung.


In Summe entsteht so durch willkürliche Deadlines extern ein grundlegender Zweifel, der durch (gut gemeinte) Kontrollmassnahmen alles noch weiter verzögert und intern ein gewisser Nihilismus, der Eigeninitiative und Engagement verdrängt und ab einem gewissen Grad sogar dazu führt, dass es zu einer Abstimmung mit den Füssen kommt, also zu Kündigungen, durch die es nochmal zu zusätzlichen Verzögerungen kommt.


Ich habe als externer Berater Fälle erlebt, in denen willkürliche Deadlines zu solchen Aufwands-Explosionen geführt haben, dass eigentlich nur leicht verspätete Vorhaben sich um Jahre verlängert haben oder sogar abgebrochen werden mussten - häufig verbunden mit einem empfindlichen Karriereknick der verantwortlichen Manager. Und alleine die Aussicht das am eigenen Fall zu erleben sollte eigentlich ein überzugender Grund sein, sich bei "ambitionierten Zielsetzungen" zurückzuhalten. Schliesslich kann nicht jeder Probleme so einfach aussitzen wie die Digitalisierungs-Politiker.

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