Dienstag, 8. August 2023

Agile Coach (IV)

Bild: Pexels / Ketut Subiyanto - Lizenz

Obwohl das was wir heute als agile Software- oder Produktentwicklung kennen nach und nach entstanden ist, gab es einige im Rückblick entscheidende Momente. Den etwa, in dem sich zwei Wissenschaftler bei einer Fabrikbesichtigung an ihren Lieblingssport erinnert fühlten, den, in dem einige Software-Entwickler realisierten, dass sie um effektiver zu werden nichts Neues machen mussten, sondern nur Bestehendes häufiger wiederholen, und auch einen weiteren, dessen Anbahnung folgendermassen beschrieben wurde:


I had been working as an agile coach for a few years when a colleague said to me, “You know, there’s a whole world of professional coaching out there. Maybe you should check it out.” This was his diplomatic way of saying, “You call yourself a coach, but you’re really not one.” He was right.
Lyssa Adkins, Coaching Agile Teams, S.121


Die Passage stammt aus einem der klassischen und noch immer wärmstens zu empfehlenden "agilen Standardwerke", Coaching Agile Teams von Lyssa Adkins, und handelt von ihr selbst. Zum hier beschriebenen Zeitpunkt hatte sie bereits seit einiger Zeit agil arbeitende Teams begleitet und war auf der Suche nach einem Begriff, mit dem sich ihr Beruf beschreiben liess, irgendwie bei dem Wort Coach gelandet, das sie als Agile Coach für sich übernahm und durch ihr Buch bekannt machte.


Was sie zu Beginn nicht wusste, und was ihr der in ihrem Buch zitierte namenlose Kollege dezent sagen wollte, war, dass ihr damit ein Irrtum unterlaufen war. Sie hatte zwar einige Aspekte des Coach-Berufs richtig erkannt und zutreffenderweise in ihrem Alltag wiedergefunden, hatte aber damit den Fehlschluss verbunden, dass es sich bei allen von ihr ausgeübten Tätigkeiten um Aspekte des Coachings handeln würde. Tatsächlich hatte einiges davon aber einen ganz anderen Hintergrund.


Ein kurzer Exkurs. Um zu definieren was ein Coach ist (und was er nicht ist) wird er von ähnlichen, bei näherer Betrachtung aber unterschiedlichen Berufen abgegrenzt. Üblicherweise (wie z.B. hier bei der International Coaching Federation) sind das die Berufe des Therapeuten, Beraters, Mentors, Lehrers/Ausbilders und Sport-Trainers.1 Sie alle haben die Unterstützung anderer Menschen zum Ziel, unterscheiden sich vom Coach aber in einem Punkt: sie haben eine eigene Agenda.


Egal ob es sich um Gesundheit, Prozess-Optimierung, Erfahrungsweitergabe, Wissensvermittlung oder körperliche Fitness handelt - allen ist gemeinsam, dass der Therapeut, Berater, Mentor, Lehrer oder Trainer ein Vorwissen hat, das er für richtig hält und weitergibt. Coaching ist grundsätzlich anders: der Coach richtet sich nach den Wünschen und Bedürfnissen des Coachees,2 hift ihm diese umzusetzen und stellt die eigene Meinung in den Hintergrund.


Ende des Exkurses, zurück zu Lyssa Adkins und ihrem Kollegen. Was diesem aufgefallen war ist, dass Adkins in ihrer Beschreibung des Agile Coaches auch Aspekte einschloss, in denen die eigene Agenda explizit nicht im Hinter- sonder im Vordergrund stand, u.a. Mentoring, Beratung, Ausbildung und (Konflikt-)Moderation. Und damit kommen wir zu dem für die agile Software- und Produktentwicklung entscheidenden Moment: sie stimmte ihm zu, behielt den Begriff des Agile Coach aber bei.


A serious point of ethics for professional coaches holds that the coachee’s agenda must be the single guiding light of the coaching relationship. The coach exists solely for the coachee, not so for us. We can’t let the coachee’s agenda rule completely because we must also mix in our agenda: to influence the coachee to use agile well. Again, it’s no big deal; just know that we are coach-like.
Lyssa Adkins, Coaching Agile Teams, S.123


Was sie hier so beiläufig umschreibt liesse sich überspitzt und mit anderen Worten auch so formulieren: "Für unsere Version des Coach-Berufs entfernen wir einen Kernbestandteil dessen was ihn eigentlich ausmacht und ersetzen ihn durch sein Gegenteil. Macht aber nichts, wir machen das ja aus einem guten Grund. Wir sollten uns nur bewusst sein, dass wir keine Coaches im eigentlichen Sinn sind, sondern lediglich Coach-ähnlich." Oder noch drastischer: "Der Agile Coach ist eigentlich gar kein Coach."


Wie oben erwähnt, Coaching Agile Teams ist direkt mit seinem Erscheinen 2010 zu einem Standardwerk geworden und hat den Begriff des Agile Coaches schlagartig bekanntgemacht und popularisiert. Hätte Adkins einen anderen benutzt (in ihrem Buch spricht sie z.B. auch vom Conductor oder Facilitator) würden wir heute möglicherweise vom Agile Conductor oder Agile Facilitator sprechen. Alleine, es war wie es war, und jetzt haben wir einen Beruf der sich Coach nennt, aber eigentlich keiner ist.


Von entscheidender Bedeutung ist das deshalb, weil wir jetzt damit leben müssen, dass das Wort Coach innerhalb der agilen Bewegung eine andere Bedeutung hat als ausserhalb. Alleine das wäre für sich genommen schon eine Kommunikations-Herausforderung, aber an einer zentralen Stelle wird die sogar noch einmal verschärft. Viele Manager lassen sich heute selbst coachen, wissen also was damit eigentlich gemeint ist. Für sie ist der Schluss von Lyssa Adkins Kollege naheliegend: da behauptet jemand, dass er Coach ist, hat aber offensichtlich nicht verstanden was das bedeutet.


Natürlich lässt sich das aufklären, indem man die Begriffsentstehung erläutert und klar macht, dass einem Agile Coach (hoffentlich) bewusst ist, dass er zwar Coaching-Techniken anwendet, sich aber von einem eigentlichen Coach in Zielsetzung und Vorgehen bewusst unterscheidet. Und natürlich sind derartige semantische Feinheiten vielen Menschen einfach egal. Unter dem Strich bleibt aber, das wir mit dem Agile Coach einen missverständlichen Begriff zentral platziert haben und ständig erklären müssen.


Zum Ende eine Klarstellung: sowohl über Lyssa Adkins als auch über ihr Buch kann man nur Gutes sagen. Es ist und bleibt ein Klassiker und ein Meilenstein. Sie hat aber mittlerweile selbst gesagt, dass sie den Begriff des Agile Coach in ihm nicht verwendet hätte, wenn sie geahnt hätte, welche Karriere er machen würde. Aber das ist mittlerweile nicht mehr zu ändern, der Name und der Beruf haben sich etabliert und werden uns vermutlich noch lange begleiten.



1Das Wort Trainer bedeutet im Englischen dann nochmal etwas anderes als im Deutschen, aber das nur nebenbei
2Coachee: eine Person, deren Selbsterkenntnisprozess von einem Coach unterstützt wird

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