Donnerstag, 11. Januar 2024

Gall's Law

Herzlich willkommen, liebe Leser, das heutige Thema ist ein weiteres "Gesetz", oder besser gesagt eine weitere pointierte Betrachtung über regelmässig zu beobachtende Phänomene der Organisations- und Softwareentwicklung, diesesmal vom amerikanischen Arzt, Systemtheoretiker und Historiker John Gall: das nach ihm benannte "Gall's Law", im deutschen manchmal unter dem Titel "Gall'sches Gesetz" anzutreffen. Es lautet folgendermassen:


A complex system that works is invariably found to have evolved from a simple system that worked. A complex system designed from scratch never works and cannot be patched up to make it work. You have to start over with a working simple system.
(John Gall: Systemantics - How Systems Really Work and How They Fail)


Ins Deutsche übersetzt: Ein komplexes System, das funktioniert, hat sich in jedem Fall aus einem einfachen System entwickelt, das funktioniert hat. Ein komplexes System, das von Grund auf neu entwickelt wurde, funktioniert nie und kann nicht dazu gebracht werden zu funktionieren. Man muss mit einem funktionierenden, einfachen System neu beginnen. Eine starke Aussage, aber ist an ihr auch etwas dran? Ist es wirklich so, dass man komplexe Systeme nicht neu entwickeln kann?


Die Antwort darauf ist ausnahmsweise nicht "kommt drauf an", sondern "kann man nicht genau sagen", und zwar aus einem einfachen Grund: weder für ein komplexes System noch für ein funktionierendes System gibt es eine allgemein anerkannte Definition, die eine einwandfreie Zuordnung einzelner Fälle ermöglichen würde. Um allgemein anwendbar sein müssen derartige Definitionen abstrakt bleiben, wodurch der Einzelfall niemals eindeutig zuzuordnen ist.


Was hingegen reichlich vorhanden ist, ist anekdotische Evidenz, und die geht klar in Galls Richtung. Im Software-Bereich wäre z.B. die seit Jahren vor sich hin scheiternde Entwicklung des "Auto-Betriebssystems" von VW zu nennen, aber auch viele andere von Lidl bis Postbank, im Bereich der Organisationsentwicklung die unzähligen Konzern-Reorganisationen, von denen laut einer Studie in über 1000 Unternehmen über 50 % ihr Ziel verfehlen (die tatsächliche Zahl dürfte nochmal höher sein).


Der Gund dafür dürfte im Wesen der Komplexität liegen, die sich dadurch auszeichnet, dass in den von ihr betroffenen Systemen so viele Teilbereiche auf so unterschiedliche und unübersichtliche Art miteinander verbunden sind, dass ihre Interaktion (bzw. deren Ergebnisse) unvorhersehbar ist. Und genau hier liegt das Problem: Unvorhersehbarkeit bedeutet in diesem Zusammenhang nämlich auch, dass die Abläufe und Koordinationsmechanismen nicht im Voraus planbar sind.


Was dagegen möglich ist, ist die emergente Entstehung eines komplexen Systems. Mit anderen Worten: beginnt man mit einem noch einfachen, stabilen System kann man diesem in kleinen Schritten komplexitätsfördernde Faktoren (Größe, Kleinteiligkeit, Vielfältigkeit, Vernetzung, Dynamik, etc.) hinzufügen, deren Auswirkungen beobachten, sie ggf. kompensieren und nach dieser Stabilisierung den nächsten kleinen Schritt gehen. So wächst das komplexe System (halbwegs) kontrolliert heran.


Das ist der Hintergrund von Gall's Law. Eigentlich verständlich, es bleibt nur eine Frage zu klären: warum dieser Absolutheitsanspruch mit den kategorischen Aussagen, dass man in jedem Fall einfach beginnen mus und dass ein komplexer Gesamtentwurf nie funktionieren kann? Wäre Differenzierung nicht besser? Man kann nur raten, aber zwei Gründe liegen nah - zum einen verkauft sich Prägnanz gut und zum anderen wäre eine differenzierte Aussage eine zu vermutlich eine zu schwache Warnung.


Würde Gall's Law z.B. lauten, dass über 50 % aller Versuche komplexe Systeme zu entwerfen ihre Ziele nicht vollständig erreichen, wäre das zwar akkurater, es würde aber auch weniger Menschen davon abhalten es doch zu versuchen. Dann lieber die polemische, dafür aber deutliche Warnung. Wer auf die nicht hört, kann zumindest nachher nicht mehr sagen, es habe von nichts gewusst.

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