Montag, 28. Oktober 2019

Erosion

Bild: Wikimedia Commons / Thomas Wilken - CC BY-SA 3.0
Vermutlich war es eine der interessantesten Diskussionen mit denen ich in letzter Zeit beteiligt war: was ist die häufigste Art der Abschaffung von agilen Transitionen oder Arbeitsweisen? Eine spontane Management-Entscheidung alles bisher Erreichte rückgängig zu machen? Eine bewusste Verfälschung oder Überladung der Methodik? Versehentlicher Murks? Widerstand der Mitarbeiter? Über-Optimierung? All das kommt vor, und doch glaube ich, dass ein anderes Phänomen häufiger ist - Erosion.

Unter Erosion (von lateinisch erodere, "abnagen") versteht man in der Geologie das langsame Abtragen von Erde oder Gestein durch Regen und Wind. Dieser Prozess verläuft aufgrund seiner Kleinteiligkeit und Langsamkeit nahezu unsichtbar - nach und nach verschwinden so kleine Mengen von der Oberfläche, dass der Effekt nur über Langzeitbeobachtungen feststellbar ist. Im Vergleich weit auseinanderliegender Zeiträume ist der Unterschied aber offensichtlich: von einstmals massiven Bergen und Felsen ist nicht mehr viel übrig.

Im übertragenen Sinn lässt sich Erosion auch in Organisationsformen betrachten. Am Anfang beginnt es meistens harmlos, fast unscheinbar. Die Timeboxes dauern ein bisschen länger als geplant, die Punkte auf den Zetteln werden manchmal vergessen, bei "offensichlichen" User Stories wird auf den Zwecksatz verzichtet, etc., etc., etc. Die Gemeinsamkeit mit der geologischen Erosion: auch hier erscheint jede einzelne Abtragung so klein, dass es sich kaum lohnt über sie zu reden. Und tatsächlich - ist es wirklich von Bedeutung wenn das Daily Standup 19 Minuten dauert statt 15?

Die zunächst un-intuitive Antwort: ja, es ist von Bedeutung, und zwar von grosser. Die vielen kleinen, scheinbar unbedeutenden Regelverletzungen haben Folgen. Wenn begonnen wird Vereinbarung zu verletzen schwindet mit jedem mal die Hemmung es erneut zu tun (Broken Window-Effect), wenn sich diese Regelverstösse als "pragmatisches Vorgehen" etablieren erfolgt dadurch eine Erziehung zur Normverletzung und wenn sich auch diese ohne Widerspruch ausbreitet droht als Endzustand der Konzern-Anarchismus. Und selbst wenn es kleinlich klingt - all das entsteht durch für sich genommen kaum erwähnenswerte Abweichungen.

Um nicht am Ende dieses Erosionsprozesses mit einem abgenagten Rest des ursprünglich agilen Prozesses dazustehen empfiehlt es sich regelmässig in Retrospektiven darüber zu refektieren ob das Erodieren schon irgendwo begonnen hat. Und sollte das der Fall sein ist es hochgradig sinnvoll sich gemeinsam Gegenmassnahmen zu überlegen, durch die verhindert wird, dass die gemeinsame Arbeitsgrundlage langsam weiter wegbröckelt.

Related Articles