Montag, 10. Oktober 2022

The agile Bookshelf: Radical Product Thinking

Bild: Pexels / Cottonbro - Lizenz

Die meisten Frameworks denen man im Kontext agiler Produktentwicklung begegnet sind erkennbar von Methodikern und Prozess-Menschen für eben solche verfasst worden. Ein Framework von und für Produktmanager oder Product Owner ist dagegen eher selten. Einer dieser seltenen Fälle ist Radical Product Thinking von Radhika Dutt. Der Inhalt ist deckungsgleich mit ihrem 2018 erschienenen gleich benannten Buch, daher ist das hier gleichermassen eine Methoden- und Buchbesprechung.


Der erste Teil des Buchs ist eine Abrechnung mit dem im Produktmanagement weit verbreiteten Antipattern überwiegend kurzfristig zu denken und zu planen. Dutt bezeichnet das als den Iterations-orientierten Ansatz (Iteration led). Ihm stellt sie als Gegenmodell den Visions-orientierten Ansatz gegenüber (Vision led), der zwar ebenfalls in kurzen Abständen lieferfähig sein will, das aber einer langfristigen Produktvision unterordnet.


Über diese Kurzfristigkeits-Orientierung hinaus identifiziert sie noch sieben weitere häufige Missstände, die sie als Produkt-Krankheiten (Product Diseases) bezeichnet und in einem eigenen Kapitel ausführlich beschreibt:

  1. Hero Syndrome
    Tritt auf wenn der Aufbau des eigenen (Helden-)Status zum eigentlichen Ziel wird. Scheitert meistens, da eben nicht jeder der nächste Steve Jobs wird.
  2. Strategic Swelling
    Ist gekennzeichnet durch eine ständig zunehmende Sammlung und Ausarbeitung möglicher Entwicklungsoptionen, von denen aber keine umgesetzt wird.
  3. Obsessive Sales Disorder
    Eine durchgehende Konzentration auf kurzfristig mögliche Geschäftsabschlüsse, selbst wenn das auf Kosten der eigentlich geplanten langfristigen Ausrichtung geht.
  4. Hypermetricema
    Übermässige Fixierung auf Metriken jeglicher Art, ohne darüber nachzudenken welche Messungen sinnvoll sind und welche nicht.
  5. Locked-In-Syndrome
    Die zu frühe Festlegung auf spezifische technische Lösungen, mit der Folge, dass diese kaum noch geändert werden können, selbst dann nicht wenn das sinnvoll wäre.
  6. Pivotitis
    Ein Ausweichverhalten, durch das versucht wird jedem Hindernis aus dem Weg zu gehen, selbst wenn das auf Kosten von Klarheit und Nachvollziehbarkeit geht.
  7. Narcissus Complex
    Das Erheben der eigenen Erfahrungswirklichkeit zum allgemeinen Massstab, mit der Folge, dass die Zielgruppenorientierung verschwindet.

Was diese Product Diseases noch einmal verstärkt, ist ihre Tendenz zu jeweils mehreren gleichzeitig aufzutreten, die sich gegenseitig verstärken können.


Dieser Problemlage werden verschiedene Lösungsansätze gegenübergestellt, angefangen von einer innovativen Definition dessen, was ein Produkt überhaupt ist (ein Werkzeug um die Welt zum Besseren zu verändern) bis hin zu sehr konkreten, zum Teil sogar mit spezifischen Templates und Anleitungen verknüpften Umsetzungsschritten (diese Templates kann man sich über die zum Buch gehörende Website auch in digitaler Form zuschicken lassen).


Konkret empfieht Radhika Dutt mit der Formulierung der Produktvision zu beginnen, daraus die Strategie abzuleiten, aus dieser die Priorisierung der zu erledigenden Aufgaben und aus dieser dann die Umsetzungsschritte. Um sicherzustellen, dass das nicht versehentlich in die oben genannten Produkt-Krankheiten umschlägt empfiehlt sie dazu die Entwicklung einer Unternehmenskultur, welche die Mitarbeiter dazu bringt ihre Tätigkeit im grossen Kontext zu sehen.


In dieser kompakten Zusammenfassung klingt das zwar banal und abstrakt, im Buch wird es aber durch die zahlreichen Praxisbeispiele und Umsetzungs-Empfehlungen plastisch und inspirierend. Ein Beispiel dafür ist die Radical Product Thinking-spezifische Produktvision, die sich durch eine konkrete Fokussierung auf Zielgruppen-Wünsche und -Probleme von den anderen, häufig sehr schwammig formulierten Visionen abzugrenzen versucht:


Wenn heute [folgende Zielgruppe] versucht [folgenden Bedarf zu befriedigen] tut sie das indem sie [auf folgende bestehende Lösung zurückgreift]. Das ist nicht akzeptabel, weil [die bestehende Lösung folgende Schwächen hat]. Wir streben eine Situation an in der [diese Schwächen beseitigt sind]. Wir führen diese Situation herbei durch [folgendes Produkt].


Besonders hervorzuheben sind ausserdem verschiedene Analyse-Werkzeuge. In verschiedenen Quadranten oder Canvases lassen sich bestimmte Variablen eintragen, deren Wechselwirkungen sichtbar machen und Potentiale und Probleme identifizieren. Sowohl für die Strategie-Entwicklung als auch für Priorisierungen, Kultur-Analysen und viele andere Bereiche lassen sich auf diese Weise neue Aspekte feststellen und Handlungsoptionen erkennen.


Trotz dieser vielen konkreten Anregungen und Anleitungen hat Radical Product Thinking aber auch bewusst freigelassene Lücken. Beispielsweise geht das Buch nicht darauf ein, wie die Kreativ-, Produktions- und Lieferprozesse abzulaufen haben. Dank dieser Zurückhaltung ist dieses Framework mit anderen, eher Prozess-orientierten kompatibel. Eine Kombination mit allen Agile- und Lean-Ansätzen, aber auch klassischem Projektmanagement ist daher problemlos möglich.


Die Haupt-Zielgruppe dürften natürlich die jeweiligen Produktmanager und Product Owner einer Entwicklungsorganisation sein, auch den Agile Coaches, Scrum Mastern und Delivery Managern ist es aber zu empfehlen. Wie viel aus diesem Buch übernommen wird muss natürlich jeder selbst entscheiden, es aufmerksam zu lesen kann man aber jedem empfehlen.

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