Montag, 27. März 2023

Empathie-Lücke und Subjektive Validierung

Cognitive Biases, zu deutsch verzerrte Wahrnehmungen, sind häufiger, als wir es uns eingestehen wollen. Nahezu alle Aspekte unseres Lebens sind davon betroffen, dass wir die Realität nicht immer so wahrnehmen wie sie ist, sondern so wie wir sie uns vorstellen. Auch in der Produktentwicklung kommen derartige Verzerrungen vor, und zwei von ihnen können besonders unschöne Auswirkungen haben: die Empathie-Lücke und die subjektive Validierung.


Empathie-Lücken liegen vor, wenn wir nicht in der Lage sind, uns in die Situation anderer Menschen hineinzuversetzen. Die Ursache dafür sind in der Regel Unterschiede in Herkunft, Alter, Geschlecht, Ethnie oder anderen Faktoren. Warum das in der Produktentwicklung ein Problem ist, dürfte offensichtlich sein - schlimmstenfalls entwickeln wir Produkte an den Bedürfnissen oder Vorlieben der Zielgruppe vorbei, mit der Folge, dass sie am Markt nicht erfolgreich sind.


Eine subjektive Validierung bedeutet, dass wir uns selbst unbewusst zum Massstab für andere machen. Unsere eigenen Wahrnehmungen, Gefühle und Vorlieben kommen uns so selbstverständlich vor, dass wir gar nicht auf den Gedanken kommen, dass andere sie nicht teilen können. In der Produktentwicklung bedeutet das, dass wir schlimmstenfalls nur das entwickeln, was wir selbst verstehen und gut finden und nicht das was auch die Zielgruppe verstehen und brauchen würde.


Ein Beispiel, mit dem man das plastischer machen kann, sind die Schlüsselkarten-Lichtschalter in Hotelzimmern. Sir wurden um das Jahr 2000 herum entwickelt und beruhen auf einer simplen Idee: das Licht im Zimmer lässt sich nur einschalten, wenn die Karte, mit der man auch die Zimmertür öffnet, in einen Schlitz an einem Hauptschalter steckt. Verlässt man das Zimmer, nimmt man die Schlüsselkarte mit, das Licht geht wieder aus und das Hotel spart Strom.


Wir können jetzt versuchen uns vorzustellen, wie wir reagiert hätten, wenn man uns damals diese Idee vorgestellt hätte. Vermutlich positiv. Die Idee klingt gut, man versteht sofort worum es geht, sie ist relativ einfach umzusetzen und mit dem Stromsparen dient sie einem Zweck, der Wirtschaftlichkeit und Umweltschutz vereint. Auch die Manager der Hotelketten waren damals sofort überzeugt, Schlüsselkarten-Lichtschalter sind heute der fast überall anzutreffende Standard.


Das Problem an dieser eigentlich schönen Geschichte: die Idee hat in der Realität nicht gut funktioniert. Viele Hotelgäste verstanden die Funktionsweise nicht und hielten das Licht für kaputt, andere fanden im Dunkeln den Schlitz nicht, wieder andere waren es gewohnt, die Schlüsselkarte im Portemonnaie mit sich zu tragen und vergassen sie ständig im Zimmer. Die Folgen waren schlechte Bewertungen und hoher Arbeitsaufwand für das ständig  zur Hilfe gerufene Personal.


Heute steckt in fast allen Hotels eine zweite Karte dauerhaft in den Schlitzen der Hauptschalter, die dadurch ständig angeschaltet sind. Es gibt zwar meistens den Hinweis, dass man durch das Herausziehen Strom sparen kann (wie oben auf dem Bild), wer sich erkundigt wird aber erfahren, dass das nur selten passiert. Am Ende hat die eigentlich gute Idee also nur dazu geführt, dass in allen Zimmern ein zusätzlicher, kaum genutzer und unnötig komplizierter Lichtschalter eingebaut wurde.


Um wieder zum eigentlichen Thema zurückzukommen - wenn es uns schon bei so einfachen Einrichtungen wie Lichtschaltern und Schlüsselkarten schwer fällt uns in die Anwender hineinzuversetzen, wieviel schwieriger ist es dann bei komplizierten Geräten oder Software-Anwendungen? Das Risiko, dass wir an Bedürfnissen und Vorlieben vorbeientwickeln ist immens, auch (und gerade dann) wenn wir das Gefühl haben, das alles einfach und offensichtlich wäre.


Als Mittel gegen Empathie-Lücken und subjektive Validierungen bleibt am Ende nur eine Möglichkeit: Vertreter der Zielgruppe müssen möglichst früh als Tester und Feedback-Geber in den Entwicklungsprozess eingebunden werden. Onsite Custumer in XP, MVPs in Lean Startup, Sprint Reviews in Scrum und viele ähnliche Konzepte wurden aus genau diesem Grund erfunden. Nur so lässt sich feststellen, ob die eigenen Annahmen stimmen oder nicht.


Zuletzt noch ein kleiner Erfahrungswert: der vermutlich stärkste Indikator für das Vorhandensein der hier besprochenen verzerrten Wahrnehmungen ist die feste Überzeugung, von ihnen nicht betroffen zu sein. Überall dort, wo voller Selbstsicherheit behauptet wird die eigenen Kunden schon zu kennen und sie darum nicht einbeziehen zu müssen, ist es dringend geboten genau das schnellstmöglich zu tun.

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