Donnerstag, 16. März 2023

Certified Professionals

Noch einmal einige Gedanken zum Thema Zertifizierungen, beziehungsweise zu ihrem Ursprung in der Frühzeit der agilen Bewegung. Ich selbst bin ja deutlich zu jung um die noch miterlebt zu haben, allerdings gibt es glücklicherweise einige Leute die damals dabeigewesen sind und heute davon erzählen können, unter ihnen Jim Highsmith, einen der Verfasser des agilen Manifests. In seinem Blog hat er einen Eintrag verfasst, der auf einen eher unbekannten Aspekt hinweist.


Ihm zufolge hatte der damals noch recht junge Beruf des Software-Entwicklers in den 80er und 90er Jahren das Problem, dass er von anderen, etablierteren Berufsgruppen noch nicht als professionell und gleichwertig angesehen wurde. Um das auszugleichen strebten viele Entwickler nach Zertifizierungen, die nach dem Vorbild von denen der Wirtschaftsprüfer oder Ingenieure gestaltet waren und ihnen den Anschein geprüfter Professionalität verleihen sollten.


Bedenkt man, dass die verschiedenen agilen Frameworks zum Zeitpunkt ihrer damaligen Entstehung fast ausschliesslich in der Software-Entwicklung im Einsatz waren, wirft das auf die ersten agilen Zertifizierungen ein ganz anderes Licht als das heute übliche. Man kann davon ausgehen, dass sie genau wie die ebenfalls damals entstandenen verschiedenen Software-Zertifizierung dem Zweck dienten, unter Beweis zu stellen, dass auch die IT ein seriöses Berufsfeld war.


Hat man diesen Zusammenhang erst erkannt, sieht man ihn auch an einer anderen Stelle. Ab dem Jahr 2000 haben sich die Berufe des Scrum Masters (und später des Agile Coaches) deutlich gewandelt und werden heute immer seltener mit Software-Entwicklern besetzt. Eine Folge dieser Entwicklung ist das häufige Auftreten des Impostor-Syndroms, d.h. die technikfernen Personen stellen ihre Eignung für ihr technisches Umfeld in Frage. Auch als Kompensation dieser Komplexe lassen Zertifikate sich verstehen.


Sowohl für den einen als auch für den anderen Fall gilt aber etwas Weiteres, das Highsmith in seinem Blogartikel feststellt: auf den ersten Blick mögen die IT- und Agile-Zertifizierung vergleichbar wertvoll erscheinen wie die der älteren Berufe, bei näherer Betrachtung ist das aber fraglich. Während in denen nämlich unter Beweis gestellt wird, dass bestimmte Fähigkeiten in der Anwendung von Wissen gegeben sind, wird im IT- und Agile-Bereich im Wesentlichen Theorie abgefragt.


Zusammen mit den später entstandenen Kommerzialisierungs-Exzessen des agil-industriellen Komplexes (der z.T. nur noch die Zahlung der Lizenzgebühren und einen Multiple Choice-Test zur Zertifizierungs-Voraussetzung macht) hat diese hohe Theorielastigkeit dazu beigetragen, dass die Zertifizierungen von Atlassian, SAFe, ISTQB, Scrum Alliance & Co niemals als gleich hochwertig angesehen wurden wie z.B. die des AICPA, des NCEES oder des TÜV, nach deren Vorbild sie ursprünglich gestaltet sein sollten.


Der Gedanke drängt sich auf, ob eine mit echten Qualitätskontrollen und Erfahrungs-Nachweisen verbundene Zertifizierung nicht auch heute noch eine gute Idee sein könnte. Die Softwareentwicklung hat sich zwar mittlerweile als seriöser Beruf etabliert, bei den "agilen Berufen" tragen die nicht existenten Eintrittshürden aber bis heute dazu bei, dass ihre professionelle Natur immer wieder in Frage gestellt wird (und das in vielen Fällen zu Recht).


Diese Professionalität durch (diesesmal praxisrelevante) Zertifizierungen zu belegen wäre heute vermutlich ähnlich sinnvoll wie damals in den 80er und 90er Jahren. Es wird spannend sein zu beobachten, ob in absehbarer Zeit ein Bedarf dafür entstehen wird.

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