Freitag, 14. Juli 2023

Der virtuelle Agile Coach

Grafik: Pixabay / Alexandra Koch - Lizenz

Einer der grossen Hypes des Jahres 2023 ist die künstliche Intelligenz (KI), mit einem spezifischen Focus auf Programmen wie ChatGPT, denen das Potential nachgesagt wird, ganze Berufe der Wissensarbeit ersetzen zu können, darunter auch den Scrum Master und Agile Coach. Obwohl derartigen absoluten Aussagen immer mit Vorsicht zu begegnen ist, ist die Frage grundsätzlich spannend - welche Teile dieser Berufe könnte eine KI übernehmen?


Ein erster und naheliegender Teil wäre die Gestaltung von Retrospektiven. Man muss dazu wissen, dass diese bereits jetzt von vielen Scrum Mastern per Zufallsgenerator aus dem Retromat-Generator zusammengestellt werden. Bedenkt man dazu noch, dass für Remote-Retrospektiven für jedes Retromat-Modul ein entsprechendes Miro-Board bereitsteht, dann ahnt man, dass die Vorbereitung dieses Meetings problemlos automatisierbar ist (wenn auch auf Kosten der Individualität).


Ebenfall an eine KI übertragbar sind Teile der Meeting-Moderation. Egal ob in einem Daily ein Ticket nach dem anderen durchgegangen wird oder ein Team-Mitglied nach dem anderen - in beiden Fällen könnte auch ein Computerprogramm um ein kurzes Update bitten. Es könnte sogar darauf hinweisen wenn jemand zu lange redet oder an keinem Ticket auf dem Board arbeitet und Meeting-Ergebnisse zusammenfassen. Derartige Programme gibt es bereits, mit all ihren Möglichkeiten und Begrenzungen.


Erstaunlicherweise ebenfalls in Teilen automatisierbar sind Coaching-Gespräche. Bedenkt man, dass die bei vielen Agile Coaches aus einem überschaubaren Set von immer ähnlichen Fragen bestehen ("Was willst Du damit erreichen?", "Woran messt Ihr, ob es funktioniert hat?", "Wie fühlst Du Dich dabei?", etc.), dann ist eine Übertragung an eine KI gut vorstellbar. Einen ersten Erfahrungsbericht dazu gibt es in der FAZ (leider hinter einer Paywall). Sicher der kontroverseste Aspekt.


Auch das Erheben vieler Metriken kann ein Computerprogramm genau so gut wie ein Mensch - oder sogar noch besser. Velocity, Lead Times, Cyle Times, WIP Age, Throughput, Code Coverage, Deployment Frequency, Batch Size und Mean Time to Recovery werden in vielen DevOps-Teams bereits jetzt automatisch erhoben, die Verknüpfung mit einem Programm, das Auffälligkeiten erkennt und darauf hinweist, wäre problemlos machbar.


Was in absehbarer Zeit noch dazu kommen dürfte ist die Administration von Tools wie Jira oder Azure Boards. Bereits jetzt kann KI ganze Webseiten programmieren, das Konfigurieren von digitalen Kanban-Boards oder das Vergeben von Berechtigungen sind im Vergleich dazu relativ einfache Aufgaben. Auch eine Beschränkung der KI auf bestimmte zulässige Berechtigungen oder Konfigurationen wäre einfach umsetzbar.


Natürlich kann man diskutieren, ob das alles gute Ideen sind (bei der Meeting-Moderation ist das z.B. fraglich), und selbstverständlich gibt es Tätigkeiten, die eine KI noch nicht übernehmen kann (z.B. das Erkennen gemeinsamer Organisationsdesign-Root Causes von auf den ersten Blick unterschiedlichen Impediments oder die Verknüpfung von Softwarearchitektur-Entscheidungen mit langsamem Arbeitsfortschritt), vieles wird sich aber doch automatisieren lassen.


Zur Wahrheit gehört zuletzt auch, dass es viele Scrum Master und Agile Coaches gibt, deren Tätigkeit mit Retrospektiven-Vorbereitung, standardisierter Meeting-Moderation, Jira-Konfiguration und schablonenhaften Sinnfragen abschliessend beschrieben ist. Diese Menschen könnten fast ohne Qualitätsverlust von einer KI ersetzt werden. Für jeden, der zu dieser Gruppe gehört, wäre es daher ein guter Zeitpunkt, den eigenen Wirkungsradius deutlich zu erweitern.

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