Montag, 23. März 2020

Sense of Urgency

Bild: Pixabay / Slonpics - Lizenz
Falls zukünftige Generationen die Geschehnisse im Frühling 2020 rückblickend betrachten sollten werden sie vermutlich einen Sachverhalt besonders bemerkenswert finden: die unglaubliche Geschwindigkeit mit der hier in Deutschland Grundrechte ausser Kraft gesetzt wurden. Nur wenige Wochen nach dem ersten Coronavirus-Fall wurde von der Regierung beschlossen die Versammlungsfreiheit auszusetzen, die Bewegungsfreiheit einzuschränken und bestimmten Gruppen zeitweise die Berufsfreiheit zu nehmen (dazu kommen noch beispiellose finanzielle Massnahmen). Noch vor drei Monaten wäre das unvorstellbar gewesen.

Dass sich das in so kurzer Zeit derartig radikal geändert hat, hat mit einem Phänomen zu tun, das im Change Management Sense of Urgency (übersetzt Gefühl der Dringlichkeit) genannt wird. Dabei handelt es sich um nicht weniger als um den heiligen Gral aller Veränderungsvorhaben - wenn der Sense of Urgency gegeben ist werden auch weitreichende Veränderungen von den Beteiligten und Betroffenen nicht nur hingenommen sondern sogar unterstützt, was im Change Management der anzustrebende Idealzustand ist.

Damit dieses Gefühl entsteht müssen in der Regel zwei Voraussetzungen gegeben sein: zum einen muss wirklich eine Dringlichkeit vorliegen, zum anderen müssen bei Nichtstun ernsthafte Konsequenzen drohen. Das scheint naheliegend, ist es in der Realität meistens aber nicht. In grossen Organisationen wird oft schon von einem Sense of Urgency gesprochen wenn in zwei Jahren eine Verrentungswelle ansteht, nach der Stellen extern (und damit teurer) besetzt werden müssen. Wie unsinnig eine solche Begriffsverwendung ist zeigt sich beim Vergleich mit echter Dringlichkeit: Börsencrashs, Produktionsausfällen, Security Breaches oder (wie im aktuellen Fall) Seuchenausbrüchen.

Der Vorteil eines bei Beteiligten und Betroffenen gegebenen Sense of Urgency ist, dass Reaktionsgeschwindigkeit und Handlungsspielraum schnell und massiv erweitert werden können. Das kann wie im aktuellen Fall bedeuten, dass mit Notstandsverordnungen regiert werden kann, auf die Wirtschaft übertragen aber z.B auch, dass die betriebliche Mitbestimmung oder regulierende Vorschriften tatsächlich oder de facto ausgesetzt werden. Es entsteht dadurch der sprichwörtliche "grosse Hebel", mit dem schnell reagiert und "durchregiert" werden kann.

Auf der anderen Seite stehen aber auch grosse Risiken die beachtet werden müssen. Im schlimmsten Fall kann sich der Sense of Urgency zu einer Massenpanik auswachsen, in deren Rahmen auch unverhältnismässige oder populistische aber wirkungslose Massnahmen durchgepeitscht werden. Zudem ist er zwar ein guter Ausgangspunkt für Hau Ruck-Veränderungen, flacht aber auch schnell wieder ab, weshalb er selten langfristige und nachhaltige Verbesserungsprozesse auslösen kann (einmal mehr sei an dieser Stelle Alan Deutschmanns Buch Change or Die empfohlen).

Zusammengefasst: der Sense of Urgency kann eine mächtige Veränderungskraft sein, der man sich aber mit Vorsicht anvertrauen sollte. Man kann mit ihm in kurzer Zeit viel erreichen aber auch viel beschädigen. Und wenn das Risiko besteht, dass diese Schäden an so fundamental wichtigen Stellen wie den Grundrechten oder der betrieblichen Mitbestimmung auftreten, dann sollte man sich sehr sicher sein, dass man sich nicht gerade von seiner Dynamik zu weit treiben lässt.

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