Dienstag, 23. Februar 2021

Kein Richtiges im Falschen

Bild: Wikimedia Commons / Vysotsky - CC BY-SA 4.0

Es gibt einige hochproblematische Denk- und Handlungsmuster die mir in mittlerweile mehr als zehn Jahren Unternehmensberatung und Agile Coaching immer wieder aufgefallen sind, sowohl bei Kunden als auch bei anderen Beratern. Eines davon durfte ich mir vor kurzem auf einer Rede auf einer Branchenveranstaltung wieder anhören. Da es schwerwiegende Auswirkungen haben kann lohnt sich ein näherer Blick.


Die zentrale These lautete, dass Hochleistungsteams in grossen Unternehmen nur bestehen können wenn sie permanent gegen Regeln verstossen. Alles - Machtstrukturen, Kommunikationswege, Organisationsaufbau und Arbeitsabläufe - wäre dort so leistungsfeindlich, dass Leistung nur im unbeachteten Hintergrund stattfinden könnte. Die Aufgabe von Managern müsste es daher sein, diese "verborgenen Inseln der Höchstleistung" zuzulassen und sie gegen Entdeckung und Anpassung an die geltenden Regeln zu verteidigen.


Puh. There is a lot to unpack here, wie die Amerikaner sagen würden. Zunächst die Ausgangslage: offensichtlich kannte der Redner1 aus seiner Arbeit vor allem hochgradig dysfunktionale Organisationen. Dass es die gibt ist unbestritten, und dass er überwiegend dort gelandet ist, ist Pech für ihn. Sein erster Denkfehler ist allerdings, dass er aus seiner lediglich anekdotischen Evidenz eine generelle Regel ableitete (von der ich nicht glaube, dass sie stimmt). Aber gut, gehen wir den Gedankengang mit und tun wir so als wären alle Firmen leistungsfeindlich.


Der zweite Denkfehler baut auf dem ersten auf: nicht nur ist in ihm die Ausgangslage überall gleich schlimm, sie ist auch nirgendwo zum Besseren veränderbar, weil die Regeln (und das sie durchsetzende Management) diese Verbesserung verhindern würden. An dieser Stelle ist vieles problematisch - etwa das Menschenbild, der Determinismus, die durchscheinende Untertanenkultur. Auch hier glaube ich nicht, dass die Annahme stimmt, aber nochmal, gehen wir den Gedankengang mit.


Der dritte (auf den beiden vorigen aufbauende) Denkfehler ist der bei dem es wirklich gefährlich wird: da in dieser Weltsicht die Situation überall gleich dysfunktional ist und da niemand das ändern will (oder kann) bleibt nur noch der bewusste Regelverstoss als einzige Handlungsoption übrig. Warum das gefährlich ist dürfte offensichtlich sein - sobald einmal eine Erziehung zur Normverletzung stattgefunden hat werden mit hoher Wahrscheinlichkeit auch sinnvolle Regeln umgangen werden, und vielleicht sogar Gesetze. Das Ergebnis ist Nihilismus.


Was in der Gesamtsicht dieser Denkfehler erkennbar wird ist das Risiko in das man sich begibt wenn man toxische Rahmenbedingungen nicht ändern will (oder sie für unveränderbar hält) und stattdessen versucht innerhalb dieses Rahmens nur das zu optimieren was von ihm nicht vorgegeben wird. Da bei diesem Vorgehen der Root Cause, also der Ursprung des Problems, nicht angegangen wird, bleiben dessen Auswirkungen bestehen und kontaminieren letztendlich auch die gut gemeinten lokalen Optimierungen.


Auf den Punkt gebracht wurde diese Erkenntnis bereits in den 40er Jahren vom Philosophen Theodor W. Adorno mit seinem mittlerweile geflügelten Wort "Es gibt kein richtiges Leben im falschen",  mit dem er (vereinfacht gesagt) aussagte, dass man sich auch noch so gut gemeinte lokale Verbesserungen eigentlich sparen kann wenn sie in einem dysfunktionalen Gesamtsystem stattfinden. Auf das oben genannte Beispiel übertragen: wer die "verborgenen Inseln der Höchstleistung" vor der toxischen Umwelt versteckt statt diese Umwelt zu reparieren verbessert damit nichts.


Um zum Abschluss zu kommen: warum die hier erläuterten Denk- und Handlungsmuster hochproblematisch sind dürfte jetzt klar sein, dass sie weit verbreitet sind dürfte aber leider auch zutreffen2. Sich dieses Thema bewusst zu machen kann ein zentraler Faktor für Erfolg oder Misserfolg von Verbesserungsvorhaben sein - nicht zuletzt deshalb weil man dann alle Berater und Agile Coaches die nur am Richtigen im Falschen arbeiten wollen sanft auf die Unsinnigkeit ihres Tuns hinweisen kann.



1Keine Nahmensnennung, weil ich ihn weder an den Pranger stellen noch beruflich schädigen will.
2Ja, auch nur anekdotische Evidenz, aber immerhin basierend auf einem Jahrzehnt Beratungserfahrung.

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