Dienstag, 25. Mai 2021

Begriffs-Entfrachtung

Bild: Wikimedia Commons / Rohit Choudhary Raj - CC BY-SA 3.0

Zu den grossen Problemen nahezu aller agilen Transformationsvorhaben (und auch vieler Firmen die ihre Arbeitsweisen bereits umgestellt haben) gehört die Unklarheit des Begriffs "Agil". An keiner Stelle (auch nicht im Manifest für agile Software-Entwicklung) wird definiert was genau darunter zu verstehen ist, man kann lediglich versuchen es sich aus dem Kontext herzuleiten - in irgendeiner Form läuft es auf beweglich, schnell und reaktionsfähig heraus, völlig klar wird es aber nicht.


Diese Unklarheit hat mit der Zeit dazu geführt, dass der Begriff mitunter sehr weit ausgelegt und manchmal sogar erweitert wird. Immer wieder werden verschiedene ähnliche, verwandte oder nicht im Widerspruch stehende Konzepte zu (halb)offiziellen Elementen der Agilität erklärt. Das ist in verschiedener Hinsicht problematisch: zum einen wird die Umsetzung unnötig eingeengt, zum anderen liefert es all jenen Munition die nach Gründen suchen um das Konzept ablehnen zu können.


Um die Diskussion und die Umsetzung wieder zurück zu Klarheit, Offenheit und Realismus zu führen kann es nötig sein den Begriff zu "entfrachten" ihn also von allem zu befreien was ihm nachträglich aufgeladen wurde. Das macht sowohl zu Beginn agiler Transitionen Sinn als auch bei Firmen und Teams die schon länger so arbeiten, bei denen sich aber (ggf. unbemerkt) derartige Überfrachtungen eingeschlichen haben.


Vermutlich das häufigste Überfrachtungselement ist die Überzeugung, dass agiles Arbeiten erfordert, "dass jeder alles kann". Abgeleitet von dem Wunsch Crossfunktionalität zu haben und Flaschenhälse zu vermeiden ist die Grundidee Wissen zu verteilen zwar richtig, in diesem Extrem führt sie aber entweder dazu, dass die Betroffenen sich überfordert fühlen oder dazu, dass sie unverhältnismässig viel Zeit für Lernen und Ausprobieren einfordern.


Ein weiteres Element mit dem agile Arbeitsweisen überfrachtet werden ist Basisdemokratie. Vermutlich ausgehend von den hohen Mitbestimmungsrechten der agilen Teams stösst man in vielen Organisationen auf Menschen die der Meinung sind, dass in einem "wirklich agilen" Unternehmen auch über Entscheidungen zu Produktstrategie oder Stellenbesetzungen abgestimmt werden müsste. Aber bei aller Liebe zur Demokratie - um schnell liefer- und reaktionsfähig zu sein braucht man sie nur bedingt.


Oft mit der Forderung nach Demokratie einhergehend kommt als drittes Überfrachtungselement der Konsens-Zwang. Ohne dass klar ist wie diese Idee entstanden ist herrscht in vielen Teams die Überzeugung vor alle Entscheidungen einstimmig treffen zu müssen, mitunter wird auch gefordert das auf grössere Organisationseinheiten zu übertragen. Hier droht sogar das Gegenteil von Agilität - lähmende Dauer-Debatten bis endlich alle zustimmen.


Ebenfalls immer wieder anzutreffen ist die Überzeugung, dass konsequent agil arbeitende Firmen ihren Kunden jeden denkbaren Wunsch erfüllen müssten. So naheliegend das angesichts des hohen Wertes der Kundenorientierung auch klingt, stimmen tut es nicht. Spätestens bei dem (menschlich verständlichen) Kundenwunsch immer die höchste Qualität zum niedrigsten Preis haben zu wollen muss sich die Frage nach der Wirtschaftlichkeit stellen.


Und auch das kann in Extremfällen auftreten: die Überzeugung, dass agile Unternehmen eher gemeinwohl- als gewinnorientiert arbeiten müssten. Man kann die Ursache dafür vermutlich bei den amerikanischen XP- und Scrum-Teams der 90er Jahre finden, die sich ihre Handlungsfreiheit noch gegen das Shareholder Value-getriebene Management erkämpfen mussten, eine daraus abgeleitete grundlegende Ablehnung von Gewinnorientierung ist aber eher anarchistisch als agil.


Die Liste liesse sich noch weiterführen, die Grundproblematik ist aber klar: sobald sich die Überfrachtung des Begriffs "Agil" mit einem oder mehreren der hier genannten Aspekte in den Köpfen festgesetzt hat wird der Versuch so zu arbeiten eher zu Frustration und Unwillen führen als zu Erfolgen. Da dieses Antipattern in vielen Fällen aber unbewusst herbeigeführt wird oder schleichend und unbemerkt entsteht kann man es kaum verhindern. Also was tun?


Ein Lösungsansatz ist es, möglichst früh eine intern geltende "offizielle Definition" des Begriffs zu verfassen, idealerweise eine die sich auf die Kernaspekte der Liefer- und Reaktionsfähigkeit beschränkt und breit kommuniziert wird. Die kann dann regelmässig genutzt werden um sich zu fragen ob sich mittlerweile alte oder neue Überfrachtungselemente eingeschlichen haben, die dann wieder entfernt werden sollten.


Und bevor es zu Missverständnissen kommt: das heisst nicht, dass man diese Ideen nicht nutzen könnte. Wenn eine Organisation z.B. alles im Konsens entscheiden will, nur zu. Sie sollte das nur nicht deshalb tun weil es angeblich zur Agilität gehört.

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