Donnerstag, 15. Juli 2021

Agilität und Sorgfalt

Der aktuelle Sturm im Wasserglas betrifft ein Gremium von dem die meisten noch nie gehört haben dürften, den Beirat „Junge Digitale Wirtschaft“, des Bundeswirtschaftsministeriums. Diese aus den Vertretern deutscher Startups zusammengesetzte Beratergruppe veröffentlichte im April ein Positionspapier, das die Regierung zur "Disziplinierung" der Medien aufrief, also de facto zu Zensur und Eingriffe in die Redaktionsfreiheit (siehe oben) und damit zur Verletzung des Grundgesetzes.


Nach einem Bericht des Handelsblatts ruderten alle Beteiligten zurück und wollten nichts von diesem Text gewusst oder ihn nicht so gemeint haben. Bemerkenswert ist dabei die in der FAZ abgegebene Begründung dafür, dass er trotzdem veröffentlicht wurde - das alles hätte nur passieren können weil der Beirat seit kurzem agil arbeiten würde. Dadurch sei es nicht mehr möglich gewesen eine gründliche Qualitätssicherung zu machen und nur deshalb sei es zur Veröffentlichung gekommen.


Durch die Umstellung auf eine agilere Arbeitsweise haben sich die Entscheidungs-Prozesse innerhalb des Beirats in den vergangenen Monaten stark verändert. Wichtige Checks-and-Balances-Vorgänge, die für eine solche Arbeit fundamental sind, haben in diesem Moment nicht ausreichend stattgefunden.
Aus der Stellungnahme des Beirats „Junge Digitale Wirtschaft“


Nun ja. Sollte das nicht der verzweifelte Versuch sein eine Ausrede zu erfinden müsste man den Verfassern konstatieren zur Agilität ein ähnlich gestörtes Verhältnis zu haben wie zur Pressefreiheit, denn das was sie hier behaupten entspricht eben nicht dem Anspruch der agilen Produktentwicklung. Es geht in ihr nicht darum schlampig und unsorgfältig zu arbeiten um schneller fertig zu werden, sondern darum, dass alle notwendigen Qualitätskriterien so schnell wie möglich erreicht werden (siehe auch hier).


Am Beispiel des misslungenen Positionspapiers lässt sich gut aufzuzeigen wie ein gleichzeitig agiler und sorgfältiger Prozess aussehen könnte. In einem ersten Schritt könnte man den Text in seine noch zu schreibenden Abschnitte unterteilen, in diesem Fall Beseitigung von Überregulierung, Reduzierung der Anforderungen an Börsengänge, Gewährleistung ausgewogener Berichterstattung, etc, die dann durch eine erste Qualitätssicherung gehen. Bestenfalls würde der Zensur-Teil schon hier gestrichen.


Sollte er an dieser Stelle noch durchrutschen kann als nächstes ein Abschnitt nach dem anderen erstellt werden, wodurch es möglich wird die fertigen bereits reviewen zu lassen während die späteren noch in Bearbeitung sind oder auf ihre Verfassung warten. Hier könnte bereits eine qualitätssichernde Definition of Done zum Einsatz kommen, die in diesem Fall z.B. den Punkt "darf nicht geltenden Gesetzen widersprechen" enthalten sollte.1


Beim Zusammenfügen der derartig qualitätsgesicherten Textbausteine müsste dann nur noch ein "Integrationstest" erfolgen, also eine Überprüfung ob die einzelnen Abschnitte inhaltlich aufeinander aufbauen, gleich formatiert sind, etc. Da dieser Integrationstest jedesmal durchgeführt werden sollte wenn ein neues Abschnitt fertig ist würde jeder Durchgang vergleichsweise schnell sein, da er auf vergangene Durchläufe aufbauen kann.


Auch die am Ende stattfindende Schlussredaktion würde in diesem Vorgehensmodell schnell über die Bühne gehen können, da der Grossteil der Arbeit bereits in den vorherigen Arbeitsschritten erledigt wurde. Der in Schlussphasen häufige Zeitdruck würde weniger ins Gewicht fallen und die Versuchung bei der Qualitätssicherung zu schlampen um schneller fertigzuwerden wäre nicht mehr gegeben. In der Gesamtsicht wäre der Prozess sowohl agil (flexibel, iterativ, incrementell) als auch sorgfältig.


Übrigens: als Nebenprodukt eines solchen Vorgehens würden schon früh die Punkte auffallen, über die man in zwischen- oder nachgelagerten Retrospektiven reden sollte, in dem hier thematisierten Fall etwa das Verhältnis der Beteiligten zur freiheitlich demokratischen Grundordnung. Das wäre sicherlich ein interessanter Termin.


1Bei einem politischen Beratergremium in einem stark regulierten Umfeld weniger abseitig als man auf den ersten Blick annehmen könnte

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