Donnerstag, 27. Januar 2022

Stacey Matrix (III)

Ich möchte noch einmal über die Stacey Matrix sprechen. Diesesmal nicht darüber was sie ist und wofür sie meistens benutzt wird und auch nicht darüber, dass sie ursprünglich ganz anders aussah als auf den mittlerweile üblichen Darstellungen. Beides habe ich an anderer Stelle bereits gemacht (siehe hier und hier). Heute möchte ich eine weitere Einsatzmöglichkeit aufzeigen, und zwar eine die zwar wichtig ist aber leider noch zu selten genutzt wird.


Um mit der Problemstellung zu beginnen: sehr häufig wird die Stacey-Matrix eingesetzt um Vorhaben oder Herausforderungen in eine der vier Kategorien (Einfach, kompliziert, komplex, chaotisch) einzusortieren und sie dann langfristig dort stehenzulassen (meistens verbunden mit der Auswahl eines jeweils passenden methodischen Ansatzes). Das entspricht allerdings im Normalfall nicht der Realität, in der sich früher oder später alles von der Position wegbewegt in die es einsortiert wurde.1


Darüber hinaus (und jetzt kommt der eigentliche Punkt) erfolgt diese Bewegung im Normalfall nicht in irgendeine Richtung sondern fast immer in die selbe: nach rechts oben. Praktisch jedes Vorhaben in mittleren oder grossen Organisationen wird über die Zeit immer komplizierter, komplexer und chaotischer, bis zu dem Punkt an dem es ohne Gegensteuerung ins Unbeherrschbare abkippt. Und sobald man sich Beispiele dafür ansieht wird auch nachvollziehbar warum das so ist.


Bei einfachen Vorhaben oder Herausforderungen ist eine häufige Ursache die Automatisierung. Die ist im einfachen Bereich richtig und wichtig, was oft übersehen wird ist aber, dass die dafür nötige Hard- und Software mindestens kompliziert, im Zweifel sogar komplex ist. Da sie aber untrennbar mit ihrem Durchführungs-Gegenstand verbunden ist kann auch dieser nicht mehr einfach sein. Eine andere Ursache ist das Outsourcing, das alleine durch Verträge und Zahlungsströme kompliziert werden muss.


Auch im komplizierten Bereich sind es eine eigentlich richtige Massnahmen die zum Abrutschen in die Komplexität führen: die Normierung und Standardisierung vergleichbarer Tätigkeiten sowie ihre Optimierung und Beschleunigung. Ab einem bestimmten Punkt ist der Regulierungsumfang so hoch und die Durchführungsgeschwindigkeit so schnell, dass sich nicht mehr rechtzeitig nachverfolgen lässt welcher Prozess gerade in Kraft tritt oder in Kraft treten müsste. Kleine Kontrollverluste häufen sich.


Dort wo es komplex ist greifen schliesslich zwei Effekte ineinander: das hier sehr effektive Inspect & Adapt führt versehentlich immer wieder zu einem Vorrang kurzfristiger und lokaler Lösungen vor langfristigen und grösseren. Der Reflex das durch übergreifende Kontroll- oder Verwaltungsstrukturen kompensieren zu wollen führt dann ins Chaos -  die Organisation wird schwerfällig und kann nicht mehr rechtzeitig auf die ständigen Störungen und Disruptionen reagieren. Es kommt zum grossen Kontrollverlust.


All das kann man wunderbar anhand der Stacey Matrix erklären, sei es indem man Post-Its oder digitale Kacheln von links unten nach rechts oben wandern lässt oder indem man die Dynamik durch Pfeile darstellt. Und wer eine mittlere oder grosse Organisation auch nur ein bisschen kennengelernt hat wird zahlreiche Beispiele nennen können mit denen sich der Einwand "so etwas würden wir doch niemals bei uns zulassen" widerlegen lässt.


Das Fatale an der so beschriebenen Situation ist, dass sie in einer Zwickmühle endet. Auf der einen Seite führen die an sich richtigen Optimierungsbemühungen früher über später über den Kipp-Punkt hinaus an dem aus Verbesserungen Verschlimmbesserungen werden, auf der anderen Seite führt seine unklare Position dazu, dass ab einem bestimmten Optimierungsgrad Ineffizienz und Ineffektivität nicht mehr weiter beseitigt werden können, wenn man sicher sein will nicht versehentlich zu weit zu gehen.2


Die einzige Möglichkeit mit der sich ein Abkippen in eine dieser beiden Dysfunktionen vermeiden lässt ist die Anwendung von agilen Entwicklungspraktiken auch auf die Organisationsentwicklung selbst. In einem kontinuierlichen, niemals endenden Prozess muss regelmässig überprüft werden ob sich alles noch in der "goldenen Mitte" zwischen Verbesserung und Verschlimmbesserung befindet. Nur so entsteht in der Stacey Matrix-Visualisierung wieder die ausgleichende Bewegung nach links unten.


An dieser Stelle fällt auch einer der am weitesten verbreiteten "agilen Mythen" in sich zusammen: der Mythos, dass der Scrum Master, bzw. Agile Coach sich irgendwann selbst überflüssig macht. Zwar gibt es Teams die in der Lage sind selbst gegen den Sog nach rechts oben zu arbeiten, zu viele verlieren sich aber früher oder später in Routinen, Termindruck und Bestätigungsfehlern - sie brauchen jemanden der ausserhalb des Hamsterrades steht, und hilft dauerhaft gegen diese Strömung zu arbeiten.


Wie zu Beginn gesagt, die Stacey Matrix wird nur selten für die hier genannten Erklärungen eingesetzt. Ich kann nur empfehlen es trotzdem zu tun, denn meiner Meinung nach entfaltet sie nur so ihre volle Wirkung und zeigt den Bedarf nach agilem Vorgehen und agilen Prozessbegleitern auf, die für eine erfolgreiche Organisationsentwicklung in einer sich ständig ändernden Welt nötig sind.



1Wie man so schön sagt: πάντα ῥεῖ
2Dass diese Position nicht festzustellen ist liegt daran, dass auch sie von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird und sich ständig verlagert

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