Virtue Signaling (II)
Kommen wir noch einmal zurück zum Thema Virtue Signaling, also zum demonstrativen öffentlichen Kommunizieren von Standpunkten, die als moralisch gut oder sogar überlegen wahrgenommen werden. In der agilen Community ist dieses Verhalten sehr stark ausgeprägt, sowohl als Zeichen der Überlegenheit des eigenen Vorgehens gegenüber "traditionellen" Ansätzen (v.a. Wasserfall), als auch gegenüber falsch verstandenem agilen Arbeiten (so genanntem Cargo Cult).
Auf den ersten Blick ist das auch naheliegend: wenn der eigene Ansatz nun mal als effektiver, effizienter, wirtschaftlicher und humaner empfunden wird, dann kann man das auch sagen, und wenn es darüber hinaus dazu führt, dass man dadurch einfacher in der Lage ist, Gleichgesinnte zu finden und von ihnen gefunden zu werden - um so besser. Die so entstandenen Erfahrungsaustausch- und Unterstützungs-Netzwerke sind für ihre Mitglieder wertvoll und hilfreich.
Das Problem, das dadurch entstehen kann, ist aber, dass sich andersdenkende Menschen ausgeschlossen oder im schlimmsten Fall sogar auf ungerechte Weise herabgesetzt fühlen können. Auch unter den Anwendern von Prince2, SAFe und weiteren nicht- oder halb-agilen Methoden wird die Mehrheit mit den besten Absichten (und oft sogar mit Erfolg) zur Arbeit gehen. Sich ständig anhören zu müssen, dass nur ein anderes Vorgehen das einzig Wahre ist, kann schnell verletzend wirken.
Alleine die auf diese Art aufgerissenen Gräben zwischen den ständig Virtue Signaling betreibenden Anhängern des agilen Arbeitens und den sich unfair behandelt fühlenden Vertretern klassischer und hybrider Ansätze können bereits zu unnötigen Konflikten, nicht zielführenden Grundsatz-Diskussionen und einem gestörten Betriebsklima führen, im schlimmsten Fall kann die Situation aber auf unschöne Weise noch stärker eskalieren, wenn es nämlich zu einer Gegen-Überreaktion kommt.
Aus politischen Debatten ist das Phänomen des Vice Signaling bekannt, also des Konterns des Virtue Signaling durch das Einnehmen bewusst überspitzter oder übertriebener Gegenpositionen. In gewisser Weise handelt es sich dabei um kollektive Reaktanz, also um den Versuch, einer gefühlten Bedrohung des eigenen Freiheits-Spielraums dadurch entgegenzuwirken, dass er vorsorglich über das notwendige Mass hinaus ausgedehnt wird, so dass er selbst bei einer Einschränkung noch hinreichend gross bleibt.
Sobald sich eine Debatte einmal in einer Wechselwirkung (oder sogar einer Eskalationsdynamik) zwischen agilem Virtue Signaling und nicht-agilem Vice Signaling verfangen hat, ist konstruktives Arbeiten kaum noch möglich. Im schlimmsten Fall verlagern sich die Auseinandersetzungen dann sogar auf eine identitätspolitische Ebene, auf der andersdenkenden Menschen nur aufgrund ihrer Meinung charakterliche oder kognitive Defizite unterstellt werden. Der Diskurs ist dann nachhaltig vergiftet.
Um es nicht dazu kommen zu lassen, kann es sinnvoll sein, das Virtue Signaling in einem überschaubaren Rahmen zu halten - auch und gerade dann wenn man sich selbst absolut im Recht fühlt. Statt das eigene Vorgehen kategorisch zu überhöhen kann man sachlich darlegen, aufgrund welcher Faktoren es in welchen Rahmenbedingungen welche erkennbaren Vorteile im Vergleich zu anderen Methoden bringt. Das Risiko, dass Konflikte entstehen, wird so deutlich geringer ausfallen.
Und der Vollständigkeit halber: natürlich kann es auch Situationen geben, in der das Virtue Signaling von klassisch sozialisierten Projektmanagern ausgeht und das Vice Signaling von überreagierenden Agilisten. Es gibt keine Gruppe, die gegen derartige Fehltritte immun ist. Umso wichtiger ist es, das eigene Verhalten regelmässig kritisch auf den Prüfstand zu stellen.
